Liebe und Verrat - 2
Gedanken mit Stärke und Klugheit gegen Samaels Armee stemmte. Sie war meine engste Verbündete, auch wenn wir voneinander getrennt waren. Jetzt bin ich allein. So allein wie nie zuvor.
Jetzt gibt es nur noch Alice und mich.
27
Dimitri und ich stehen allein am Ufer des Meers und starren über die leere Wasserfläche. Die Barke mit Tante Abigails Leichnam, die hinaus aufs Meer geschoben wurde, ist schon lange verschwunden. Sie ist weg, genauso wie alle anderen, die sich am Strand versammelt hatten, als der Körper meiner Großtante dem Ozean überantwortet wurde.
Die Zeremonie kommt mir fast überhastet vor; jemanden an dem Tag, an dem er gestorben ist, auch zur ewigen Ruhe zu betten, ist unüblich in meiner Welt. Aber Dimitri hat mir erklärt, dass es hier so Brauch ist. Ich habe keinen Grund, an seiner Aussage zu zweifeln, genauso wenig, wie er meine Darlegungen über die Gewohnheiten meiner Welt in Frage stellen würde. Außerdem war Tante Abigail eine Schwester und die Herrin über Altus. Wenn man hier auf diese Weise Lebewohl sagt, dann denke ich, dass meine Tante sich ihren Abschied genauso und nicht anders wünschte.
Dimitri wendet sich von der Wasserfläche ab und schickt sich zum Gehen an. Dabei ergreift er meine Hand. »Ich werde dich ins Heiligtum zurückbringen. Dann muss ich mit den Grigori einige Dinge besprechen.«
Überrascht schaue ich ihn an. Selbst in meiner Trauer kann ich die Neugier, die mir immer schon zu eigen war, nicht unterdrücken. »Was für Dinge?«
»Es gibt vieles, was geklärt werden muss, besonders jetzt, da Lady Abigail nicht mehr unter uns weilt.« Er schaut stur geradeaus, und ich habe das Gefühl, dass er meinem Blick ausweicht.
»Ja, aber wir reisen morgen ab. Hat das nicht Zeit?«
Er nickt. »Das habe ich auch gesagt. Ich muss mich immer noch für meine Einmischung bei der Sache mit dem Kelpie verantworten, aber ich habe darum gebeten, dass ich erst vor dem Rat erscheinen muss, wenn wir die fehlenden Seiten in Händen haben.«
»Das hört sich vernünftig an.«
»Ja«, sagt Dimitri. »Der Rat wird mich noch vor dem Morgengrauen seine Entscheidung wissen lassen. Aber es gibt noch eine andere Frage, die geklärt werden muss. Eine Frage, die dich betrifft.«
»Mich?« Ich bleibe wie angewurzelt stehen, kurz bevor wir auf den Pfad einbiegen, der uns wieder zum Heiligtum führt.
Dimitri nimmt meine Hände. »Lia, du bist die rechtmäßige Herrin von Altus.«
Ich schüttele den Kopf. »Aber ich habe dir doch gesagt: Ich will es nicht. Nicht jetzt. Ich kann nicht …« Ich wende den Blick ab. »Ich kann darüber nicht nachdenken, weil ich mich auf andere Dinge konzentrieren muss.«
»Das verstehe ich. Wirklich. Aber in der Zwischenzeit ist Altus ohne Anführerin, und du musst dich entscheiden: Entweder du lehnst ab, oder du nimmst die Aufgabe an.«
Verärgerung entzündet sich an meiner eigenen Ratlosigkeit. »Und warum richten die Grigori nicht direkt das Wort an mich? Bei all der Freizügigkeit, die auf Altus herrscht, ist es doch wohl nicht unter ihrer Würde, mit einer Frau zu sprechen, oder?«
Sein Seufzen klingt müde. »Es ist einfach so. Nicht, weil du eine Frau bist, Lia, sondern weil die Ältesten der Grigori für sich bleiben, außer, wenn es die Disziplin oder die allgemeine Ordnung unbedingt erfordern. Sie führen ein Dasein in einer Abgeschiedenheit, die denen eurer Mönche ähnlich ist. Das ist auch der Grund, warum die Grigori auf der anderen Seite der Insel leben. Sie bedienen sich Botschaftern, wie zum Beispiel meiner Person, um sich mit den Schwestern auszutauschen. Und glaub mir, Lia, falls du jemals zu einer Audienz bei den Grigori befohlen wirst, hat das nichts Gutes zu verheißen.«
Ich gebe es auf. Ich habe einfach keine Zeit, um die komplizierten Regeln und Bräuche, die Politik und das allgemeine Miteinander der Insel zu entschlüsseln.
»Was für Möglichkeiten habe ich, Dimitri?«
Er holt tief Atem, als ob das nun folgende Gespräch besonders viel Kraft kosten würde. »Erstens: Du kannst die Stellung, die man dir anbietet, akzeptieren und für die Zeit deiner Abwesenheit eine Stellvertreterin ernennen. Zweitens: Du akzeptierst die Stellung und bleibst, um zu herrschen, aber das würde bedeuten, dass jemand anderer an deiner Stelle die Seiten holt. Drittens: Du lehnst ab.«
Ich kaue auf meiner Unterlippe und denke über die Alternativen nach. Ein Teil von mir will umgehend ablehnen, damit ich mich ganz auf die fehlenden Seiten
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