Liebe und Verrat - 2
konzentrieren kann. Aber ein anderer Teil von mir, der praktische und vernünftige Teil, erkennt, dass dies eine überstürzte Entscheidung wäre.
»Was passiert, wenn ich ablehne?«
Seine Antwort kommt ohne Umschweife. »Dann wird Ursula Herrin über Altus, weil Alice ihr Recht dazu verwirkt hat, indem sie sich den Grigori widersetzte.«
Ursula. Allein schon der Name bereitet mir Unbehagen. Sie mag eine starke und kluge Anführerin sein, das will ich gar nicht infrage stellen. Aber ich habe gelernt, meinem Instinkt zu vertrauen, und ich bin nicht bereit, etwas so Wichtiges wie das Schicksal von Altus, etwas, dem Tante Abigail ihr Leben verschrieb, jemandem in die Hände zu geben, den ich mit derart gemischten Gefühlen betrachte. Nein. Wenn ich die rechtmäßige Herrin bin, dann werden die Grigori meinem Wunsch entsprechen, wenn es im Interesse der Insel ist.
Und ich bin mir sicher, dass es das ist.
Ich schaue zu Dimitri, während der Entschluss in mir reift. »Ich werde weder ablehnen noch akzeptieren.«
Er schüttelt den Kopf. »Das geht nicht, Lia.«
»Es wird gehen müssen.« Ich straffe die Schultern. »Ich bin die rechtmäßige Herrin, und ich habe die Aufgabe, im Namen der Schwesternschaft die fehlenden Seiten aufzuspüren. Da ich nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann und es auch nicht erwartet werden darf, dass ich mich ganz und gar auf die Reise konzentrieren kann, während ich gezwungenermaßen über meine Rolle als Herrin über Altus nachdenken muss, werde auch ich – wie du – um Aufschub bitten.«
Ich wende mich weg und gehe vor ihm ein Stück auf und ab. Je mehr ich darüber nachdenke, desto stärker fühle ich mich. »Ich ernenne die Grigori zu den Herren über die Insel während meiner Abwesenheit, bis ich mit den fehlenden Seiten der Prophezeiung zurückkehre.«
»Das ist noch niemals geschehen«, sagt Dimitri.
»Dann ist es an der Zeit.«
Ich finde Luisa in der Bibliothek. Sie sitzt an einem Tisch, sanft beleuchtet durch den Lichtkegel der Tischlampe. Ich betrachte die dunklen Locken, die sich über die zarten Wangenknochen ergießen, und mit einem Stich wird mir bewusst, dass ich ab morgen zum ersten Mal, seit wir gemeinsam aus London aufgebrochen sind, ohne sie sein werde. Ohne ihre Gesellschaft. Ich werde ihre Schlagfertigkeit und ihren Humor vermissen.
»Luisa.« Ich versuche, leise zu sprechen, um sie nicht zu erschrecken, aber ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Als sie aufschaut, ist es mir, als würde ich in ihrem Gesicht ein Meer aus Ruhe erblicken.
Sie erhebt sich, lächelt und kommt auf mich zu. Ihre Arme umschließen mich und einen Augenblick lang genießen wir einfach die Innigkeit unserer Freundschaft. Als sie zurücktritt, betrachtet sie mich ganz genau.
»Alles in Ordnung?«
»Ich glaube schon.« Ich lächle sie an. »Ich möchte mich von dir verabschieden. Wir brechen früh am Morgen auf.«
Sie erwidert mein Lächeln mit Traurigkeit in den Augen. »Ich werde dich nicht fragen, wohin du gehst. Ich weiß, dass du darüber nicht reden darfst. Also will ich dir einfach sagen, dass ich hierbleiben und auf Sonia aufpassen werde, während du die Seiten holst. Wir sind ein gutes Team, wir beide. Nicht wahr? Und bevor wir es uns versehen, sind wir schon wieder alle beisammen in London.«
Ich will ihr jetzt Auf Wiedersehen sagen, wenn wir beide noch guter Laune sind und hoffnungsvoll in die Zukunft schauen, wenigstens nach außen hin. Aber ich weiß, dass ich keine Ruhe haben werde, wenn ich den heutigen Morgen unkommentiert lasse.
Ich seufze. »Ich möchte Sonia so gerne vertrauen.«
»Aber natürlich. Und das wirst du auch.« Sie umarmt mich heftig. »Das Vertrauen wird mit der Zeit kommen, Lia, wie alle Dinge. Jetzt ist nicht die Zeit, sich über Sonia den Kopf zu zerbrechen. Das werde ich für dich tun, während du weg bist. Denk jetzt nur an deine eigene Sicherheit und an die Reise, die dir bevorsteht. Finde die Seiten. Um den Rest kümmern wir uns nach deiner Rückkehr.«
Wir klammern uns noch einen Moment länger an das Band unserer Freundschaft, und während der ganzen Zeit versuche ich, die stumme Erwiderung, die mir unwillkürlich in den Sinn gekommen ist, wieder aus meinem Kopf zu verbannen. Wenn ich zurückkehre, Luisa. Wenn.
Ich kann vor lauter Anspannung kaum noch atmen. Es ist schon eine Stunde her, seit ich mich von Luisa verabschiedet habe, und während ich auf meinem Bett sitze und auf Dimitri warte, zerrt die Angst vor der Entscheidung
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