Liebe und Verrat - 2
Steinhaufen. Er ist wunderschön, aber trotzdem ist nicht das Verlangen, meine Hand in das reine Wasser zu halten, der Grund, warum ich darauf zurenne. Es ist die Bank daneben, besser gesagt: Sonia, die auf dieser Bank sitzt.
Sie erhebt sich, als sie unsere knirschenden Schritte hört, und als ich ihr in die Augen schaue, sehe ich Zögerlichkeit und Angst in den eisblauen Tiefen. Ich muss nicht lange überlegen. Ich handele instinktiv, und es liegt nur ein Wimpernschlag zwischen dem Moment, in dem ich sie sehe, und dem Augenblick, in dem wir einander in die Arme fallen, lachen und weinen, alles zur gleichen Zeit.
»Oh! Oh du meine Güte! Oh, Lia, wie ich dich vermisst habe!« Ihre Stimme wird von Tränen erstickt.
Ich trete zurück und schaue sie an, betrachte die dunklen Ringe unter ihren Augen, die durchscheinende Haut und ihren Körper, der ohnehin schon viel zu schmal war und jetzt wirkt, als hätte sie zehn Pfund abgenommen.
»Geht es dir gut?«
Sie zögert, dann nickt sie. »Komm, setz dich.« Sie zieht mich zur Bank, hält dann plötzlich inne und schaut zu Dimitri und Luisa. »Ich bitte um Verzeihung«, sagt sie scheu. »Ich habe nicht Guten Morgen gesagt.«
Dimitri lächelt. »Guten Morgen. Wie fühlst du dich?«
Sie denkt auch über diese Frage nach, als ob die Antwort alles andere als leicht wäre. »Besser, glaube ich.«
Er nickt. »Gut. Möchtest du, dass ich euch allein lasse?«
Sie schüttelt den Kopf. »Mir wurde gesagt, du seiest ein Sohn von Altus. Daher vermute ich, dass du ohnehin schon alles weißt. Mir ist es recht, wenn du bleibst. Und … Luisa. Willst du auch bleiben?«
Sonia wirkt noch beschämter, als sie sich Luisa zuwendet. Ich weiß nicht, ob der Grund dafür darin liegt, dass sie so hartnäckig versuchte, mich von Luisas Schuld zu überzeugen, oder ob es ihre eigene ist, unter der sie leidet. Jedenfalls kann sie Luisa kaum in die Augen schauen.
Luisa lächelt sie freundlich an und gesellt sich zu uns. Dimitri beweist einmal mehr Feingefühl und lässt sich auf einem der großen Steine nieder, die den Springbrunnen umgeben. Ein paar Augenblicke sitzen wir unbehaglich da, weil keine von uns weiß, wo sie anfangen soll. Einmal, nur einmal, fällt Sonias Blick auf mein Handgelenk. Ich ziehe meine Hand tiefer in meinen Ärmel hinein, um das Medaillon zu verhüllen. Als ich ihren Blick einfange, sieht sie zur Seite.
Schließlich schaut sich Dimitri im Garten um. »Ich hatte vergessen, wie schön es hier ist. Behandelt man dich gut?«, fragt er Sonia.
»Oh ja. Die Schwestern waren sehr gütig, unter den … unter den gegebenen Umständen.« Ihre helle Haut rötet sich beschämt und wieder versinken wir in Schweigen.
Dimitri steht auf und wischt sich die Hände an den Hosenbeinen ab. »Warst du schon einmal draußen?« Er schaut hoch zum Himmel. »Ich meine nicht diesen Hof, sondern außerhalb des Hauses?«
»Einmal«, sagt Sonia. »Gestern.«
»Einmal ist nicht genug. Es ist zu herrlich, um es bloß einmal zu sehen. Wollen wir einen Spaziergang machen?«
26
Wir treten durch die Glastür am Ende des Gangs, und da liegt das Meer vor unseren Füßen. Es glitzert in der Sonne, und obwohl es weit unter uns ist, dringt sein Duft stärker und mächtiger zu uns empor, als ich es je zuvor auf Altus erlebt habe. Dimitri beugt sich zu mir und bringt seinen Mund ganz nah an mein Ohr.
»Was hältst du davon?«
Es raubt mir schier den Atem. Ich finde keine Worte, um dem Anblick gerecht zu werden, und deshalb antworte ich nur mit einem strahlenden Lächeln.
Er streckt die Hand aus, um mein Haar zu berühren, und selbst jetzt verdunkeln sich seine Augen von einem Gefühl, das ich Leidenschaft nennen möchte. Überrascht registriere ich den Elfenbeinkamm in seiner Hand, als er sie zurückzieht. Es ist der Kamm, den mein Vater mir vor langer Zeit geschenkt hat.
»Er saß locker«, sagt er und reicht ihn mir, ehe wir uns den anderen zuwenden. »Es ist ein schöner Tag für einen Spaziergang. Ich schlage vor, wir nutzen ihn aus.«
Und schon geht er mit langen Schritten voraus und lässt uns allein. Ich staune über seine Fähigkeit, immer genau das Richtige zu sagen oder zu tun.
Luisa, Sonia und ich gehen wortlos nebeneinander her. Der Wind zerzaust uns die Haare und spielt mit unseren Gewändern. Ich reibe den Kamm zwischen den Fingern. Aber die Glätte seiner Oberfläche hilft mir nicht, den Zorn zu besänftigen, der sich wieder einmal unter der Oberfläche meiner Gedanken
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