Liebe und Völkermord
auf sie zu und blieb ein paar Schritte vor ihr stehen. Sie atmete tief ein. Noch nie hatte sie einen toten Menschen gesehen.
„ Was ist geschehen?“, fragte er.
Sie starrte vor sich hin. Die toten Christen brannten sich in ihr Gedächtnis ein. Sie kannte sie alle vom Sehen her. Nun waren viele von ihnen tot. Ob Kinder unter den Toten waren, konnte sie nicht erkennen, doch hatten die Türken wohl auch sie nicht verschont. Was für grausame Menschen mussten diese gewesen sein, welche dieses Massaker an diesen unschuldigen, friedfertigen Menschen verrichtet hatten, fragte sie sich. Es waren Muslime wie sie gewesen. Sie schämte sich nun, eine Muslimin zu sein. Sie verfluchte alle Muslime und sogar den Propheten Muhammad. Hatte wirklich er diesen Türken den Mord an diesen Unschuldigen befohlen?
Dann dachte sie an Matthias. Wie konnte sie ihm helfen? Es war gewiss gefährlich für sie, ihm Unterschlupf in ihrem Haus zu gewähren. Ihr fiel nun Ali ein, er hatte Maria mit sich genommen. Bestimmt versteckte er sie in seinem Haus. „Du musst hier bleiben. Niemand darf dich sehen. Ich gehe jetzt hinaus und gehe bis zum Christenviertel. Mein Bruder ist immer noch nicht zurückgekommen. Vielleicht befindet er sich dort.“
Er wollte sie begleiten, doch war er einsichtig, es war einfach zu gefährlich für ihn. Die Muslime des Dorfes wussten, wer er war. Würde einer ihn an die Türken verraten, dann hätte bereits seine letzte Stunde geschlagen. Er war so neugierig und war so von Rage erfüllt, doch hielt sich noch im Zaum und blieb im Haus. Meridschan versprach ihm, so schnell wie möglich wieder zurückzukehren.
Sie schlenderte über den Gehweg, direkt in Richtung der Leichen. Sie hielt sich das untere Ende ihres Schleiers vor dem Mund. Ihre Augen konnte sie nicht von den Leichen abwenden. Sie schaute nach rechts und links, als sie an die Häuser der Aramäer vorbei schritt. Neben einem Haus blieb sie stehen und schaute durch das Fenster ins Haus hinein. Niemand befand sich darin. Alle Häuser der Christen standen leer.
Auch wenn sie sie alle nicht persönlich kannte, so hatte sie sich doch an ihre Nachbarn und ihr tägliches Treiben und ihren Lärm gewöhnt. Mit der Zeit hatte sie sie quasi lieben gelernt. Aufrichtig trauerte sie um sie.
Sie ging weiter nordwärts. Dort lagen fünf Leichen auf dem Boden, zwei Männer mittleren Alters, zwei Frauen und ein Kind. Sie kannte alle fünf Gesichter. Ihre Augen wurden noch rötlicher. Dann hörte sie plötzlich ein Rascheln vom Osten her. Ein Mann in Rüstung betrat den Gehweg am anderen Ende. Er stand nicht weit von ihr entfernt. Er hielt seinen Säbel in seiner rechten Hand auf den Boden gerichtet. Seine Augen waren auf Meridschan gerichtet. Ihr Herz pochte nun schneller. Sie dachte daran, wegzulaufen, aber dann würde er sie verfolgen und bestimmt einholen. Zwar trug sie einen Schleier auf dem Kopf, doch auch die christlichen Frauen trugen einen. An ihrer Kleidung und ihrer körperlichen Erscheinung waren sie nicht voneinander zu unterscheiden. Sie hatte Angst. Er gaffte sie an, sein Mund öffnete sich langsam. Erst lachte er, dann befeuchtete er mit seiner Zunge seine Lippen. So sehr freute er sich schon auf sein Opfer. Seit einer Woche schon hatte er keine Frau gehabt. Und noch nie hatte er eine Christin genommen. Nun endlich war er auf eine noch lebende gestoßen. Er wollte unbedingt wissen, wie sich der Koitus mit einer Christin anfühlte.
Meridschan schloss ihre Augen. Das Letzte, was ihr jetzt einfiel, war, zu beten. Sie betete das islamische Glaubensbekenntnis. Erst flüsternd vor sich hin, dann wurde sie – sie merkte es nicht einmal – immer lauter.
Der Türke hielt plötzlich inne, als er die arabischen Gebetsworte vernahm. Er seufzte, er hatte sich zu früh gefreut. Er rannte sofort in Richtung Osten, er musste seine Kameraden einholen, welche nun wohl schon weit entfernt waren.
Zwar war Meridschan erleichtert, als sie den Fortgang des Mörders zur Kenntnis nahm, doch waren ihre Gedanken sofort wieder bei ihrem Bruder. Wo war er nur? War er etwa mit den anderen Aramäern geflohen? Oder pflegte er einige der tödlich verletzten Aramäer?
Sie eilte zum nördlichen Ende des Dorfes, dort aber hielt sich keine Menschenseele auf. Wann das Dorf jemals so still war, konnte sie sich nicht erinnern. Diese Stille war unheimlich und besänftigend zugleich.
Sie rannte zum nächsten Haus eines Muslims. Es war das Haus des allein lebenden Fuad, eines guten Freundes
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