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Liebe und Völkermord

Liebe und Völkermord

Titel: Liebe und Völkermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Imran
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ihres Bruders. Sie schlug mit der Innenfläche ihrer rechten Hand mehrmals gegen die Tür. Eigentlich waren die Schläge an die Tür nicht so laut, doch in dieser Stille hallte der Lärm im Dorf wider.
    Die Tür öffnete sich. Das Quietschen dieser Tür verursachte jedes Mal Kopfschmerzen bei Meridschan. Erst spähte er aus der Öffnung, dann öffnete er die Tür. Er ergriff ihre Hand und zog sie zu sich. Sie wehrte sich, sie sagte zu ihm, sie wolle von ihm nur wissen, wo ihr Bruder sei. Er antwortete ihr, er habe nur gesehen, wie er in die Kirche gerannt sei. Danach habe er das Geschehen nicht beobachtet.
    Sie rannte zur Kirche, schritt durch den Eingangsbogen in den Innenhof und erschrak, als sie die Leiche des Abuna erblickte, mit dem abgetrennten Haupt daneben.
    So schockiert war sie, sie konnte keinen Schritt weitermachen. Hier draußen im Innenhof war niemand mehr zu sehen. Die Leiche des Abuna lag nur wenige Meter vor dem Eingangstor der Kirche. Sie musste an der Leiche vorbei gehen. So schloss sie ihre Augen, weinte wieder und tapste Schritt für Schritt auf das Tor zu. Als sie es erreichte, hatte sie eine schreckliche Vorahnung. In der Kirche war es ebenfalls still. Sie legte ihre rechte Hand auf die Klingel, es war ein schlichtes Teil aus Eisen und an den Seiten war es bereits verrostet. Zu sehr fürchtete sie sich vor dem, was sie hinter dem Tor sehen würde. Sie nahm all ihren Mut zusammen und drückte langsam die Klingel nach unten. Das Tor öffnete sich einen kleinen Spalt breit. Sie drückte mit ihrer rechten Hand dagegen. Dann sah sie sie sofort. Es war der schlimmste Augenblick ihres Lebens. Mitten im Raum lag die Leiche ihres Bruders. Er lag quer auf dem Boden, Blut tropfte aus seinem Mund auf sein Hemd. Jemand muss ihm wohl durch den Bauch zu Tode gestochen haben, erkannte sie.
    Sie betrat nicht die Kirche. Sie schloss sofort das Tor, drehte sich um und lief schreiend zurück zum Gehweg und dann zurück zu ihrem Haus. Als sie wieder zurück im Haus war, erzählte sie Matthias vom Tod ihres Bruders. Sie weinte wieder und nun waren ihre Augen vollkommen rötlich geworden.
    Er tröstete sie, er streichelte ihr Haar, drückte ihren Körper an sich und versprach ihr, nicht von ihrer Seite zu weichen.
    Sie sprachen kein Wort mehr, sie blieben verharrt dort auf dem Boden des Vorzimmers sitzend, Arm in Arm, weinend, trauernd, nachdenkend.
    Matthias dachte über das Motiv der Türken nach, warum sie Abdullah getötet hatten. Was hatte er in der Kirche zu suchen?
    Nach einer Stunde brach er das Schweigen. Es erschien ihm zwar taktlos, die trauernde Meridschan jetzt mit diesen Fragen zu bombardieren, aber es war auch eine gute Ablenkung von ihrer Trauer.
    Sie erzählte ihm, ihr Bruder sei den Aramäern wohlgesinnt gewesen. Wie gut sein Verhältnis zum Dorfpfarrer war, wusste sie nicht.
    Matthias kam schließlich auf zwei plausible Erklärungen für die Motive des Mordes an Abdullah Raschid. Zum einen hätte es ein Missverständnis sein können, in der Kirche hätten sie ihn für einen Christen gehalten, oder er hätte einem Christen geholfen und musste deswegen sein Leben lassen. Er fragte sie, ob sie noch weitere Leichen in der Kirche gesehen hätte. Sie sagte, sie hätte die Kirche nicht betreten, sie hätte die Leiche ihres Bruders deutlich gesehen und sei erschrocken stehen geblieben. Ob es noch andere Leichen gegeben habe, daran könne sie sich nicht erinnern.
    Die Sonne war bereits untergegangen. Bald darauf dämmerte es draußen.
    „ Gleich ist es dunkel. Dann kann ich mich unbemerkt hinaus schleichen und in die Kirche gehen und nachschauen.“
    „ Nein, du bleibst hier! Das ist zu gefährlich.“
    „ Ich bin unbemerkt fortgegangen und durch die Nacht geschritten, den ganzen weiten Weg von Badibe hierher. Niemand wird mich sehen. Mach dir keine Gedanken.“
    Schließlich gab sie nach. Sie küsste ihn auf seine linke Wange. Beide waren sie noch so jung und nun waren sie ganz auf sich allein gestellt. Ihr Bruder würde nie wieder zurückkommen. Sie hatte sich immer auf ihn verlassen. Zwar hatte sie ihm ihre intimen Geheimnisse nicht offenbaren können, doch war er ihr schon ein guter Seelsorger gewesen. Er fehlte ihr.
    Dann dachte sie über Matthias nach. Sie musste ihn vor dem Tod bewahren. Die Soldaten waren wohl fort, doch die Muslime des Dorfes würden womöglich über die versteckten Christen herfallen.
    Sie weinte. Das Leben war bisher so angenehm, auch wenn sie und ihr Bruder nicht reich

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