Liebe und Völkermord
gewesen waren. Alles war so friedlich. Kurden und Aramäer hatten doch harmonisch nebeneinander gelebt. Und nun war das Leben so schlimm, wie sie es sich in ihren schlimmsten Alpträumen nicht hatte vorstellen können. Ach, was war das doch für ein schweres Los. Und was hatte das Schicksal noch mit ihr vor?
Isa lief um sein Leben. Er dachte jetzt nur noch an seine Tochter. Er rannte den kurzen, steilen Hang so schnell herunter, er fiel dreimal hin, er stützte sich mit seiner linken Hand ab und verhinderte somit einen Überkopfsturz. Darin war er geübt. Die türkischen Söldner hatten die Anhöhe noch nicht erreicht.
Seine Nachbarn wunderten sich, noch nie war er durch das Dorf zu seinem Haus gerannt. Etwas musste geschehen sein. Ein alter Mann, Qurijo, stellte sich ihm in den Weg. Der Alte war gebrechlich, nur mühsam schaffte er es, sich fortzubewegen. Isa wich ihm aus und betrat den erdigen Nebenweg des Gehweges. Qurijo streckte seinen eineinhalb Meter langen massiven Gehstock aus. So blieb Isa doch noch stehen, holte tief Luft und streckte seinen linken Arm in Richtung des Nordhügels aus. Mit lauter Stimme sagte er zu ihnen, eine große Armee sei im Anmarsch, um sie anzugreifen. Sie alle sollten um ihr Leben laufen. Qurijo senkte seinen Stab, Isa rannte weiter und erreichte sein Haus. Qurijo schaute zu seinen Genossen, die alten Männer Paulus und Faroch. Sie saßen auf Holzstühlen, direkt neben dem Gehweg und vor dem Haus des Qurijo. Die drei Männer schauten sich gegenseitig verwirrt an. Faroch meinte, Isa sei verrückt geworden, er wisse nicht, was er da sage. Paulus beobachtete den Gipfel des Hügels. Qurijo zuckte mit den Achseln. Er schritt langsam zurück zu seinem Platz. Jeder Schritt bereitete seinen Gliedern furchtbare Schmerzen.
Als er das Innere seines Hauses betrat, sah er mit Bestürzung, seine geliebte Tochter war nicht anwesend. Sein bescheidenes Haus maß nur sechs Meter in der Länge und vier Meter in der Breite. Irgendwo musste sie sich befinden. Dann hielt er kurz inne. Er schaute auf seine Hose. Dort waren ahornblätter-förmige Blutflecken zu sehen. Ihm fiel erst jetzt auf, in seinen Händen trug er nichts mehr. Er hatte Basse zurückgelassen. Womöglich war sie ihm in all der Panik aus den Händen geglitten. Oder er hatte sie fallen gelassen und war losgerannt. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Inzwischen hatten die Soldaten sie wohl zu Tode getrampelt. Ihr Tod tat ihm leid.
Er verließ sein Haus und rannte auf den Gehweg. Er schaute um sich herum, dann wieder zum Nordhügel. Alles verlief sehr schnell. Da sah er sie. Sie tauchten hoch oben auf dem Gipfel auf. Auch der alte Paulus hatte den ersten von ihnen sogleich entdeckt. Er stand sofort auf und zeigte mit seinem Spazierstock auf den Gipfel. Faroch hatte die kräftigste Stimme von den dreien. Er schrie um sich, so laut, so in Hysterie, selbst seine Freunde nahmen Abstand von ihm.
Einige Aramäer hörten ihn und die Frauen traten aus ihren Häusern heraus. Nur kurz darauf brach Panik aus. Einige liefen zurück in ihre Häuser und holten ihre Wertsachen aus den Verstecken, andere realisierten, es war schon zu spät und liefen einfach davon.
Der Gehweg füllte sich mit Menschen, Männern und Frauen. Die Kinder fragten ihre Eltern, was denn geschehen sei. Durch die Kinder wurde es unerträglich laut. Isa dagegen versuchte, sich zu beruhigen und klar zu denken. Seine Tochter konnte nur zum Brunnen gegangen sein. Er schubste unbeabsichtigt zwei junge Männer zur Seite, bahnte sich seinen Weg durch die Menge und rannte zum Brunnen im Osten des Dorfes. Doch aus der Ferne sah er schon, kein Mensch hielt sich dort auf. Er drehte sich zum Dorf um und beobachtete das Menschenchaos. Sein Gesicht verzog sich, sein Oberhemd war nass wegen des vielen Schweißes. Dann hörte er die ersten Todesschreie. Er ballte seine rechte Hand zu einer Faust und rannte sogar einige Schritt vorwärts zum Dorf, doch dann blieb er stehen. Es machte doch keinen Sinn, ihnen zu Hilfe zu eilen, wurde ihm klar. Es war bereits zu spät. Er musste jetzt sein eigenes Leben retten. Und in all dem Chaos musste jemand den Anderen den Weg zeigen. So rannte er zum Hügel der Ostseite. Einige Aramäer sahen, wie er den Hügel bestieg und erkannten, sie mussten ihm folgen, nur in diese Richtung würden sie fliehen und ihr Leben retten können.
Als er fast den Gipfel erreicht hatte, schlug eine Kugel genau neben seinem Fuß auf den morastigen Boden ein.
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