Liebe und Völkermord
Irgendein Türke hatte ihn wohl bemerkt und auf ihn geschossen. Hinter seinem Rücken hörte er Schreie von Kindern und Frauen, von Sterbenden und Kämpfenden, von Verzweifelten und Tapferen. Er ertrug es nicht mehr, er konnte sich nicht mehr umdrehen. So lief er den Hang hinab ins Tal. Unten angekommen überlegte er kurz, ob er in Richtung Westen oder Osten fliehen sollte. Im Westen lag Midjat, eine große Stadt, in der tausende Aramäer und Kurden lebten. Doch in Midjat gab es keinen guten Schutz und er hatte keine Verwandten dort. Also war die einzige vernünftige Entscheidung diejenige, nach Osten zu fliehen, nach Iwardo. Dort befand sich eine massive Klosterfestung auf einem hoch gelegenen Hügel. Diese Festung bot genug Platz für tausende Menschen. Unterwegs konnte er sich in einer der vielen Höhlen verstecken.
Er rannte und rannte. Die sengende Sonne brannte auf seiner Haut. Er dachte daran, sein Hemd auszuziehen, doch er schämte sich zu sehr. Er hatte nun seit über drei Stunden kein Wasser mehr getrunken.
Nach nur wenigen Augenblicken schaute er sich um und sah die nächsten Aramäer hinter sich. Er lief einige Minuten weiter, dann verließ er den Gehweg und lief über den sandigen Boden und über die Sträucher zum nächsten Hügel und bestieg ihn. Dort war eine kleine Höhle. Endlich war es ruhig. Hier wollte er für einige Momente verweilen und auf die anderen Kafroje warten. Vielleicht hätte sich Maria unter ihnen befunden. Er nutzte die Augenblicke, um zu rasten. Er setzte sich auf den steinigen Boden. Welch eine Erleichterung ihm das brachte. Doch schnell waren seine Gedanken wieder bei seinem Dorf. Nun war also wieder einmal das Schwert des Islam über sie gekommen. Er spuckte auf den Boden und verfluchte jene Religion dieser unaufhörlichen Kriegstreiber.
Schon sah er die ersten Kafroje im Tal, wie sie an ihm vorbei zogen. Dort waren seine Neffen Danho und Hanna und ihre Freunde. Er versteckte sich auf der linken Seite am Eingang zur Höhle. Noch wollte er nicht sein Versteck preisgeben.
Dann sah er die ersten jungen Frauen. Bei einer von ihnen dachte er schon, es sei Maria. Er sprang vor, als sie sich jedoch zum Hügel umdrehte und er ihr Gesicht sah, erkannte er, sie war es nicht, sondern Samira, die Tochter seines ehemaligen Weggefährten Skandar.
Ihre Eltern waren wohl nicht in der Lage, so schnell wie sie zu rennen. Sie waren noch sehr jung, er musste zu ihnen gehen und sie anführen.
Im Dorf wüteten derweil die Söldner des Ali Pascha. Einige Soldaten drängten sich sogar vor und stießen ihre Kameraden zur Seite. Das erste Haus, von dem Nordhügel aus gesehen, war das des alten Paulus. Es war schlicht, genauso bescheiden, wie sich Paulus und seine Frau Sejde in der Öffentlichkeit präsentierten. Jeder Dorfbewohner aber wusste, sie waren keinesfalls arm. Paulus' Vater war durch den Handel mit arabischen Karawanenhändlern reich geworden. Seine Waren, Gewürze aus Indien, Kleider aus feinster Seide und Haushaltsgeräte aller Art wie Töpfe und Messer aus vortrefflich verarbeitetem Eisen, waren einzigartig und begehrt in dieser Region. Sogar Waffen, wie zum Beispiel arabische Krummsäbel und Dolche und europäische Musketen hatte er in seinem Verkaufssortiment gehabt. Er hatte eigentlich Juhanun, also Johannes, geheißen, doch nannte er sich als Händler Mustafa, um sympathischer auf die Araber zu wirken. Seinen einzigen Sohn Paulus sah er nur selten, er war zu oft unterwegs auf seinen Handelsreisen. Der junge Paulus verachtete seinen Vater. Er hielt ihn für raffgierig. Die große Bedeutung von Geld und Reichtum war ihm nicht bewusst. So war sein Onkel Stejfo, der jüngere Bruder seines Vaters, sein eigentlicher Vater.
Kurz vor seinem Tod hatte Juhanun seinem Sohn von seinem Reichtum erzählt. Mehr als zehn Kilogramm Gold hatte er ihm vererbt. Ein Kilogramm davon hatte Paulus in Midjat gegen Bares eingetauscht. Er musste nie arbeiten. Weder besaß er Ackerland noch Vieh.
Seine Frau Sejde war seine Cousine mütterlicherseits. Er kannte sie seit seiner Kindheit und liebte sie inbrünstig. Sie erwiderte seine Liebe. Zu ihrer Hochzeit schenkte er ihr prächtigen Schmuck. Seitdem machte er ihr zu ihrem Geburtstag große Geschenke. Sogar jetzt noch, als 66-jähriger Mann, überreichte er seiner geliebten 60-jährigen Frau teure Geschenke. Im Gegensatz zu Paulus war Sejde geizig.
Als der Türke ihr Haus betrat, war sie gerade damit beschäftigt, den ganzen Schmuck unter ihrem Kleid zu
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