Liebe und Völkermord
Nur der Abuna schwieg und betrachtete Barsaumo mit argwöhnischen Augen. Dann hob Muksi Antar seine Arme und bat um Ruhe. Er meinte, es sei christliches Blut durch die Hand eines Christen vergossen worden und es sollte nicht noch mehr davon fließen. Egal, was zwischen den Jungen vorgefallen sei, es sei nur ein Unfall gewesen und sie sollten die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Aljas stimmte ihm zu, ebenfalls Antars Söhne und Matthias' Vater. Fuad überlegte noch, er sagte, er könne sich nicht entscheiden und wolle sich daher aus dem Prozess heraushalten. Murad stand sogar auf und schritt zu ihnen. Er hielt den Zeigefinger seiner rechten Hand hoch und bewegte ihn hin und her. Sie sollten nicht so dumm sein, meinte er. Er hatte damit die Alten beleidigt, doch sie wollten ihre Charakterstärke zeigen und verziehen dem Muchtar seinen Ausfall. Der Ausgang dieses Prozesses hing nun vom Abuna ab. Immer noch schwieg er. Er dachte über Barsaumo nach. Durch Barsaumos Beichte vor Kurzem wusste er viele Einzelheiten über ihn.
Er erhob sich und streckte seine Arme aus. „Hört mich an, Brüder! Es ist so, wie unser Bruder Muksi Antar gesagt hat, wir sollten kein weiteres christliches Blut vergießen. Ich stimme jedoch Muchtar Murad zu, Barsaumo muss bestraft werden. Auch wenn er diese schreckliche Tat nicht mit Absicht begangen hat, so ist er dennoch schuldig. Er wird hiermit von der Gemeinde ausgeschlossen und er kriegt Arrest, er darf das Dorf nicht verlassen. Bis an das Ende seiner Tage soll er bei den Mönchen des Klosters d'Ghsale leben.“
Dieses Urteil des Abunas überraschte die anwesenden Männer. Diesen Raufbold konnte sich niemand als Mönch vorstellen. Doch schon gleich leuchtete ihnen allen ein, es war in der Tat die beste Lösung. Auch der Muchtar beruhigte sich und erklärte sich mit dem Urteil einverstanden. Barsaumo hingegen grauste es. Den Rest seines Leben in einem Kloster zu verrotten, das war nun wirklich nicht, wovon er sein Leben lang geträumt hatte. Doch schwer wogen seine Sünden. Tuma war tot, er war durch seine Hand gestorben. Er hatte ihn ermordet, um seinen Ruf, beziehungsweise sein Leben, zu retten. Das war es nicht wert gewesen, sah er nun ein. Hätte er sich doch dem Urteil des Dorfes gestellt, ärgerte er sich. Das Opfer war keine Christin, vermutlich hätten sie ihn nicht einmal bestraft, dachte er.
Abuna Isa bat Aljas und Antar darum, zu dem blinden Witwer Hisni zu gehen, ihm vom Tod seines einzigen Sohnes zu berichten und ihn zu trösten. Die anderen anwesenden Männer wurden ganz still. Jeder Badebojo bemitleidete Hisni. Seine Frau war vor zehn Jahren an einer unbekannten Krankheit gestorben und nun hatte er auch noch seinen einzigen Sohn verloren. Er selbst litt seit seiner Jugend an einer Sehschwäche. Seit dem Tod seiner Frau wurde – verursacht vor allem durch den Kummer – seine Sehschwäche immer schlimmer, bis er schließlich vor drei Jahren sein Augenlicht ganz verlor.
Abuna Isa trat an Barsaumo heran, nahm seine linke Hand und stieg mit ihm die Treppen herunter. Scham'en und die anderen Männer gingen zurück ins Dorf.
Abuna Isa und Barsaumo schlenderten den Gehweg zum Hügel des Klosters hinauf. Die anderen Männer des Prozesses schritten in Zweierreihen ins Dorf. Direkt als sie das Dorf betraten, hörten sie Männerstimmen aus der Ferne. Aus dem Süden kamen mehrere bewaffnete Aramäer immer näher. Murad und Aljas sagten den anderen Männern, sie sollten nach Hause gehen, sie würden mit den Neuankömmlingen reden.
Ihr Anführer stellte sich als Klemens, den Sohn des Ibrahim aus Ehwo, vor. Mit ihm waren seine Söhne und Neffen gekommen. Sie meinten, sie hätten von der tapferen Verteidigung der Badeboje gehört und wollten nun ihren Beitrag zur Verteidigung gegen die Armee der Moslems leisten. Murad und Aljas schmunzelten und hießen sie willkommen. Darauf erzählte Klemens,
es hätten sich schon einige Aramäer aus den Dörfern des tieferen Tales in der Nähe von Midjat in Richtung Iwardo bewegt. Sie sollten sich auch dorthin begeben. Aljas und Murad schauten sich gegenseitig überrascht an.
Inzwischen hatten Abuna Isa und Barsaumo den Hang erreicht und bestiegen ihn. Er war steil und der Aufstieg war schweißtreibend. Als sie auf halbem Wege waren, schaute der Abuna ihn noch einmal an. „Anders konnte ich dein Leben nicht retten. Du wirst nicht zum Mönch geweiht. Mach dir darüber keine Gedanken. Du wirst heute Nacht fliehen. Geh in den Süden, nach
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