Liebe und Völkermord
durch die Versammlung der Männer. Als er den Toten von dort aus erblickte, blieb er schockiert stehen. Dann wanderte sein Blick zu Barsaumo herüber. Barsaumo atmete tief ein und wieder aus. Sein Herz schlug immer noch so schnell. Er konnte den Männern nicht mehr in die Augen schauen. Er würde ihnen nie wieder in die Augen schauen können.
Scham'en trat aus seinem Versteck hervor. Barsaumo sah ihn schockiert an. Murad war überrascht und glücklich, ihn zu sehen. Es gab also einen Augenzeugen des Ereignisses und er hatte vor, alle Informationen aus ihm herauszuquetschen. Die Szene sah so ähnlich aus, wie ein sich auf ein Schaf stürzender Bulle. Er griff ihn mit seinen beiden Händen an seinem Kragen und schüttelte ihn. „Du bist dabei gewesen. Sag uns, ob er lügt oder die Wahrheit sagt!“
Scham'en schnappte nach Luft. Isa und sein jüngerer Bruder Steifo eilten herbei und lösten Murad von ihm.
„Halt!“, schrie der Abuna und hielt seine rechte Hand in die Luft. „Habt ihr die Wache vergessen? Wir müssen sie neu besetzen!“
Makko, Danho und Ablahad, die Söhne des Muksi Antar, meldeten sich sofort für die nächste Wache. Sie nahmen gleich sofort ihre Ausschau-Positionen ein.
„Tragt den toten Jungen in den Innenhof meiner Kirche! Wir werden ihn später beerdigen. Diese beiden Jungen schafft ihr auf den Platz vor der Höhle! Dort werden wir sie befragen.“
Unten auf dem Platz vor der Höhle waren Abuna Isa und der Dorfälteste Aljas, Isa, Matthias' Vater, Muksi Antar und seine Söhne Isa und Steifo, und Fuad, der Sohn des Ibrahim, dann noch Muchtar Murad und natürlich Scham'en und Barsaumo anwesend. Die anderen Männer waren entweder vom Abuna weggeschickt worden oder sie waren wegen einer anderen Verpflichtung familiärer Art an der Teilnahme verhindert worden.
Alle Männer saßen auf den Felsbrocken um den Platz herum, vor ihnen in der Mitte standen Scham'en und Barsaumo. Scham'en blieb unerwartet schweigsam. Barsaumos Schicksal hing nun von seiner Aussage ab.
Murad begann sofort, auf die beiden Männer zu schimpfen. Das Dorf hätte ihnen eine wichtige Aufgabe aufgetragen und sie hätten sich stattdessen gestritten. Er verlangte, es müsse ein Exempel statuiert werden, nur so würden sie die Ordnung wiederherstellen können. Muksi Antar und auch Aljas lehnten seinen Vorschlag ab. Nun wollten sie hören, was Scham'en ihnen zu erzählen hatte.
Barsaumo war mit seinen Kräften am Ende. Er hatte auch keine Lust mehr zu kämpfen. Sein Leben war verwirkt. Er hatte nun zwei unschuldige Menschen ermordet, eine Frau und einen Mann, eine Kurdin und einen Aramäer. Das war wohl die Strafe für all seine Sünden, dachte er. Nichts in seinem Leben hatte er bisher ernst genommen. Nur den Spaß mit Frauen hatte er gesucht. Doch das Glück währte nicht lange und nun sollte es vorbei sein. So war er nun bereit, sich dem Urteil des Dorfes zu fügen. Sie würden ihn sicherlich verbannen, obgleich er schon den Tod durch Steinigung verdient gehabt hätte.
„ Es ging alles schnell. Ich sah nur, dass sie aufeinander losgegangen sind. Sie stritten sich um das Gewehr. Ich ahnte, es könnte jeden Moment losgehen, so stellte ich mich hinter dem Baum in Deckung. Gleich sofort, als ich das tat, hörte ich den lauten Knall. Für einen Moment traute ich mich, nachzuschauen, was geschehen war. Ich sah, dass Tuma tot zu Boden fiel und Barsaumo lag daneben. Mehr habe ich nicht gesehen.“
Der Muchtar und auch der Abuna musterten Scham'en. Sie ahnten schon, Scham'en log. Barsaumo war überrascht, ließ es sich aber nicht anmerken. Warum auf einmal deckte Scham'en ihn, fragte er sich.
Scham'en hatte gut überlegt, was er sagen sollte. Sein bester Freund Tuma war nun tot. Gewiss wünschte er sich Barsaumos Tod, doch nicht auf diese Weise, nicht durch das Urteil des Dorfes. Er persönlich wollte das Urteil vollstrecken.
„ Ach, er hat nichts gesehen, sagt er. Ich glaube ihm nicht. Er weiß, was vorgefallen ist. Sag uns endlich, warum sie sich gestritten haben!“, fragte der Bürgermeister den heftig schwitzenden Scham'en.
„ Es war kein Streit. Wir hielten Ausschau auf die Ebene. Es war uns langweilig geworden, so machten wir Witze. Tuma ging zu weit mit seinen Witzen über Barsaumo, so dass Barsaumo sich schon beleidigt fühlte. Sie lachten, aber dann rauften sie sich und irgendwie ging dabei das Gewehr von selbst los.“
„ Er lügt doch!“, schrie Murad. Alle Männer sprachen sich gegenseitig an, es wurde laut.
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