Liebe und Völkermord
verblieb nur noch eine halbe Stunde bis Sonnenaufgang. Sollte er sich wirklich dem Tode ausliefern? Weiter dachte er darüber nach. Ja, er wollte sterben. Aber war es wirklich sinnvoll, sich hier in dieser Einöde erschießen zu lassen und hier in diesem unbedeutenden Staub zu verwesen? Wenn er nun starb, dann sollte sein Tod einem guten Zwecke dienen, dachte er. Nein, auf diese elendige Art wollte er doch nicht sterben. So stand er wieder auf und ging humpelnd weiter in Richtung syrisches Dorf.
Als dann die Sonne aufging, hielt er kurz inne und drehte sich nach Badibe um. Er sah das weite und öde Tal vor sich und in der Ferne den Hügel. Die Wachen auf dem Gipfel des Hügels konnte er von hier aus nicht erkennen. Vermutlich standen dort keine Männer mehr oder sie standen hinter dem Wall und lugten von Zeit zu Zeit in die Ferne. Er durfte also keine Zeit mehr verlieren. Jetzt sprang er vorwärts. Das erste Haus des Dorfes war schon nahe, es war nämlich nur noch 100 Meter von ihm entfernt.
Als er dann endlich das Dorf betrat und auf dem Gehweg entlang schritt und hinter den Mauern der Häuser in Deckung stand, brach er vor Erschöpfung zusammen. Seine Kleidung war zerlumpt und verstaubt, sein Gesicht war verdunkelt durch den Dreck und an seinen Händen und Armen hatte er Platzwunden. Die kleinen Kinder des Dorfes erschraken bei seinem Anblick und liefen davon. Ein alter Mann kam herbei und trug ihn auf seinen Esel und nahm ihn zum letzten Haus in der Reihe, im Norden des Dorfes, mit. Er pflegte ihn drinnen in seinem Haus, um die Gaffer loszuwerden. Barsaumo war die ganze Zeit über im Tiefschlag. Der alte Mann war ein Heilpraktiker. Er mischte ein Gebräu aus Kräutern und Gewürzen vom Anbau in den Tälern seines Landes und kippte es in heiß gekochtes Wasser hinein. Barsaumo lag auf einer Matte. Der Alte setzte seine rechte Hand unter Barsaumos Nacken und hob seinen Kopf an und öffnete mit seiner linken Hand den Mund des Kranken. Dann kippte er den Becher im Spitzwinkel in Barsaumo hinein. Sofort riss der Aramäer seine Augen auf, spuckte das eklige Zeug aus seinem Mund heraus und keuchte. Er stieß den alten Fremden von sich weg. Der alte Mann hob seine rechte Hand und bat Barsaumo, sich zu beruhigen, er würde ihm nichts Böses antun. Er sprach auf Arabisch mit ihm. Barsaumo verstand aber nur Aramäisch und Kurdisch. Der Alte merkte dies und wechselte zu Kurdisch. Er erzählte dem Aramäer, er sei Fuad Muhammad aus der Sippe des Hussein aus Aleppo, einer alteingesessenen reichen arabischen Familie. Er hätte von den Verbrechen an den Christen gehört und bedaure dies. Barsaumo wandte sich von ihm ab, er glaubte ihm kein Wort. Der Araber nickte und bewegte den Becher in seiner linken Hand hin und her, um die Gewürze darin mit dem Wasser erneut zu mischen. „Ich weiß, was du denkst. Wir sind auch Muslime wie sie, das denkst du. Bestimmt weißt du noch nicht, dass wir die Türken genauso sehr hassen wie ihr. Sie unterdrücken unser Volk schon seit Jahrhunderten. Wir wollen uns endlich von ihrer Fremdherrschaft befreien. Sogar unser Prophet Muhammad, gesegnet sei sein Name, hasste die Türken über alles.“
Dann gab Barsaumo doch noch nach und trank das eklige Zeug aus dem Becher des Arabers. Wenn es Gift sei, dann würde er eben dort im Hause des Moslems sterben, was in gewisser Weise seiner Meinung nach nicht unehrenhaft und nicht sinnlos gewesen wäre.
Nachdem er den Becher ausgetrunken hatte, legte er sich wieder hin und schlief einen ganzen Tag lang.
Als er wieder aufwachte am nächsten Morgen, blieb er auf der Matte liegen und dachte über sein weiteres Vorgehen nach. Er traute dem Araber überhaupt nicht und hielt die ganze Zeit über Ausschau nach ihm. Er befand sich in einem kleinen, kargen Raum, er maß etwa fünf Meter in der Länge und drei Meter in der Breite. Vor dem Eingang hing ein Vorhang aus blauem Satin. Barsaumo vermutete den Araber hinter dem Vorhang, doch konnte er kein Geräusch hören aus dieser Richtung. Wollte er wirklich hier bei diesen Arabern bleiben? Oder wollte er weiter in Richtung Süden ziehen, wo er wieder auf Araber treffen würde. Wollte er wirklich den Rest seiner Tage unter diesen Fremden leben? Vielleicht würde er ihre Lebensweise kennenlernen und ihre Kultur und würde eines Tages wie sie werden. Aber dann wäre er tatsächlich ein Verräter seines Volkes und seines Glaubens. Nein, das wollte er in jedem Fall vermeiden. Ihm kam einzig und allein nur eine Lösung
Weitere Kostenlose Bücher