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Liebe und Völkermord

Liebe und Völkermord

Titel: Liebe und Völkermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Imran
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Kräfte angelangt. Seit zwei Stunden war er ununterbrochen gegangen. Er fiel vorne über auf den Boden. Mit dem linken Arm stützte er sich ab und versuchte, sich wieder aufzurichten, doch dann fiel er wieder zu Boden. Sein Körper weigerte sich. Er nahm den Sack und öffnete ihn. Er griff hinein und befühlte die Dinge in ihm. Da war ein Stück Fleisch. Er nahm es und stopfte es in seinen Mund. Es war Schweinefleisch. Er genoss es. Dann griff er nach einer der Flaschen und trank die ganze Flasche aus. Das Essen und das Wasser gaben ihm neue Kräfte. Er band den Sack mit dem dünnen Seil wieder zu, raffte sich wieder auf und ging weiter. Der Boden unter seinen Füßen wurde fester. Nur noch zwei Stunden verblieben bis zum Morgengrauen. Würde er denn in dieser kurzen Zeit das Dorf erreichen, fragte er sich. Er fasste wieder Mut und war sich sicher, er würde es schaffen.
    Seine Schritte wurden größer und bisweilen lief er sogar. So schnell, als seien die Hunde des Muchtars hinter ihm her. Wieder fiel er auf den Boden. Der Sack war zu schwer, um eine ganze Strecke so schnell zu laufen. Er raffte sich wieder auf. Seine Füße und seine Beine bis oben hin zu seinen Oberschenkeln schmerzten an allen Seiten. Er presste seine Zähne zusammen und versuchte, nicht an die Schmerzen zu denken. Irgendwie musste er diese Qualen überstehen. Und wenn er sterben sollte, dann sei dies gerecht, dachte er. Eben dieser Gedanke und der Gedanke, nichts mehr verlieren zu können, verlieh ihm neue Kräfte, ja beinahe schon übermenschliche Kräfte.
    Ihm blieb nun nur noch eine Stunde bis zum Sonnenaufgang und das syrische Dorf lag immer noch nicht in seiner Nähe. Immer noch verdunkelten die Fassaden der Häuser des Dorfes die Aussicht. Er hielt inne und setzte sich für einen Moment auf den Boden hin, um sich auszuruhen und noch einmal über alles Geschehene nachzudenken. Gewiss, er hatte viele Sünden begangen. Sünden des Fleisches hatte er zu viele begangen. Er war vielen hübschen aramäischen Mädchen aufgelauert und hatte versucht, sie zu verführen. Nur bei zwei von ihnen war ihm dies gelungen. In anderen aramäischen Dörfern hatte er mehr Glück bei den Frauen gehabt. Einmal hatte er sogar eine verheiratete Frau verführt. Oder hatte sie ihn verführt? Ganz gleich, es war eine seiner größten Sünden. Warum hatte er all dies getan? In Syrien hatte er als kleines Kind Prostituierte auf den Straßen gesehen. Das Bild dieser verdorbenen Frauen haftete seit jenen Tagen tief in seiner Erinnerung. Er hasste von da an die Frauen. Also war er im Grunde ein Fundamentalist, welcher den schlechten Charakter und die Dekadenz der Gesellschaft kritisierte. Als 15-Jähriger merkte er, wie ihm die Mädchen schöne Augen machten.
    So viele Jahre lang hatte er der Gesellschaft die Stirn geboten. Er hatte die Frauen missbraucht und sie in ihrer Schande zurückgelassen. Und nun als 29-Jähriger war er zum Mörder geworden. War dies also nur die Konsequenz seiner Charaktereinstellung und seiner Verurteilung der Gesellschaft gewesen? War also diese Verachtung, dieser Hass auf diese hübschen jungen und verheirateten Frauen in ihrer vermeintlichen dekadenten Mentalität und Aktivität der Grund, warum er nun innerlich geplatzt war und zur Waffe gegriffen hatte, um all dem ein Ende zu bereiten?
    Dies mochte in Bezug auf den Mord an Aische zutreffen, aber warum hatte er Tuma getötet? Oberflächlich gesehen hatte er ihn erschossen, da er sein Geheimnis des Mordes der Ehefrau des damaligen Wesirs behüten wollte. Doch der wahre Grund war, Tuma ähnelte ihm am meisten. In Tuma sah er sein Ebenbild. Er hasste sich selbst und hätte am liebsten sich selbst getötet. Als er sich auf Tuma gestürzt hatte, hatte er es eben aus diesem Grunde getan. Er schlug auf ihn ein, weil er auf sich selbst einschlagen und, weil er sich selbst tadeln wollte. Also wollte er eigentlich nur sich selbst töten. Er war ein Feigling gewesen. Und nun lief er davon wie ein Feigling. So musste er es nun tun. Alles, was er sich wünschte, war, nun endlich zu sterben. Endlich war er ehrlich zu sich selbst. Den Tod, das Ausscheiden aus dieser ekligen Welt von dreckigen Menschen hatte er sich schon lange Zeit gewünscht. Nun sollte es endlich geschehen. Hier wollte er bis zum Sonnenaufgang sitzen bleiben. Bei Tageslicht würden die Wächter auf dem Hügel ihn aus der Ferne sehen und ihn für einen Späher der Muslime halten und ihn auf der Stelle erschießen.
    Die Zeit verging. Es

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