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Liebe und Völkermord

Liebe und Völkermord

Titel: Liebe und Völkermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Imran
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schien tot zu sein. In jener Gegend konnten sich die Zigeuner nicht aufhalten. So machte er kehrt in Richtung Westen, abseits des Landwegs. Nach hundert Metern erreichte er den ersten Hügel. Vielleicht befand sich die Siedlung dahinter. Er quetschte sich durch das Gebüsch. Er mochte das Gehege nicht. Stets zog er sich kleine Wunden an seiner Haut zu. Und dieses Mal verwundete er sich an der Oberseite seiner beiden Unterarme. Er nahm den Schmerz nicht wahr. Seine ganze Aufmerksamkeit schenkte er nur seiner verlorenen Liebe. Sie wollte er nun um jeden Preis zurückgewinnen. Wo war sie nur? Sein Herz schlug höher, denn er geriet in Verzweiflung, sie nicht zu finden und sie womöglich nie wieder zu sehen. Er gab aber noch nicht auf und beeilte sich. Vor ihm erstreckte sich erneut ein tiefes Tal. Der Hügel umzog in U-Form das Gebiet. So nahm er den angenehmeren Weg auf dem Hügel zum vorderen Ende, im Norden. Auf seinem Weg sah er zwei Höhlen. In ihnen befand sich nichts, so viel wie er beim Vorbeilaufen erkennen konnte. Dann hörte er plötzlich ein Grunzen. Irgendwo in seiner näheren Umgebung trieb sich ein Wildschwein umher. Das Tier würde ihn zweifellos aufstöbern, angreifen und zerstückeln.
    Er lief weiter und ließ sich von diesem Geräusch nicht beirren. Heil und unbehelligt erreichte er schließlich das Ende des Hügels. Und dort sah er sie. Vor ihm lag eine Ansammlung von dunklen Menschen mit ihrer Habe. Da standen mehrere rote Wagen im Kreis herum, und in der Mitte lagen Holzsitzbänke. Dort saßen alte Männer und Frauen. Sie lachten und sangen. Einer von ihnen spielte auf einer Mandoline. In der Mitte tanzten die jungen Menschen. Solch einen Tanz hatte er noch nie gesehen. Die Mädchen hoben ihre Arme und bewegten ihre Beine hin und her. Und die Jungen schwangen ihre Arme hin und her und hüpften auf ihren Füßen herum. Das war gewiss ein merkwürdiger Tanz. Matthias kannte nur die Tänze seines Volkes. Die Aramäer nahmen sich alle bei Hand und bildeten Hand in Hand oder Arm in Arm eine kreisförmige Schlange mit einer Öffnung.
    Er blieb dort auf dem Gipfel des Hügels. Niemand sah ihn. Er schaute genauer hin und suchte nach Soraja. Da war eines der Mädchen, sie musste es wohl gewesen sein. Sie tanzte gerade mit einem jungen Mann. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihm gewandt. Dann endlich drehte sich der Junge um und Matthias konnte sein Gesicht erkennen. Diesen Jungen kannte er. Das war doch der junge Mann, welcher damals seinen Landsleuten während der Verteidigung seines Dorfes gegen die Türken zu Hilfe gekommen war. Dieser Junge hatte damals Soraja in seiner Anwesenheit angesprochen.
    Er beobachtete sie weiter. Das Mädchen trat näher an den jungen Mann heran. Jetzt war er sich sicher, sie war Soraja. Sie lächelte den Jungen sogar an und beugte sich vor ihm vor. Offenbar hatte sie ihn erwählt. Matthias senkte deprimiert sein Haupt. Er war zu spät gekommen. In der Liebe hätte er nur Pech. Enttäuscht drehte er sich um und schlenderte zurück über den Berghang. Er schaute nicht ein einziges Mal geradeaus in die Ferne, um zu schauen, ob nicht das Wildschwein auftauchen würde. Was nun geschehen würde oder sollte, war ihm gleichgültig geworden. Wenn in diesem Augenblick das Schwein aufgetaucht wäre und ihn zerfleischt hätte, hätte er sich sogar gefreut. Er hatte seine Lebensfreude verloren. Er wollte nicht mehr leben. Wofür würde es sich lohnen, noch zu leben?
    Er vernahm wieder das Grunzen aus unmittelbarer Nähe. Irgendwo hinter einem Gebüsch oder einem Baum auf diesem Hang, vor, hinter oder unter ihm, hielt sich das hungrige Tier auf. Er blieb stehen. Das Tier würde es kurz und schnell erledigen. Wer würde ihn denn schon vermissen? Wer würde ihn denn schon gebrauchen? Zumindest würde dieses Schwein sich an ihm erfreuen.
    Da war ein Rascheln rechts von ihm. Meridschans und Sorajas Gesicht tauchten in seiner Erinnerung auf. Sie lächelten ihn an. Wie schön wäre es doch gewesen, dachte er. So gewaltig hatte er sich geirrt. Dann kam ihm sein älterer Bruder Madschid in den Sinn. Madschid hörte ihm zu. Er war sein bester Freund. Dann sah er Gabriel, seinen jüngeren Bruder. Er lag tot auf dem Boden vor ihm. Er beugte sich vor zu ihm und wollte ihn gerade mit seiner rechten Hand berühren, da löste sich die Leiche in Luft auf. Entsetzt schaute er um sich herum, da war nichts Anderes als Wüste und Staub. Dann hörte er einen lauten Knall. Der Knall kam vom Himmel. Er schaute

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