Liebe und Völkermord
ein, hier in diesem arabischen Dorf und in diesem muslimischen Land würde er sich nicht lange durchschlagen können. Und er hatte keine Zeit mehr. Dort im Norden starb sein Volk. In diesem Augenblick wurden seine Schwestern und Brüder durch die Hand des Moslems abgeschlachtet. Ungestüm und naiv wie er war, riskierte er es einfach, seinen arabischen Schützer in seinen Plan einzuweihen. Fuad Muhammad versuchte erst, den jungen Mann zu überreden, ein neues Leben hier in diesem Land zu beginnen, und irgendwann in Zukunft, wenn der Krieg vorbei sei, würde er in seine Heimat zurückkehren können. Jetzt im Krieg sei es zu gefährlich für ihn und er würde bestimmt den Tod durch die Hand des Türken erleiden. Der Araber erkannte aber schnell, der Aramäer war von seinem Plan nicht mehr abzubringen. Er müsse unvorstellbar Grausames gesehen haben, weswegen er so voller Hass sei. So stellte der alte Mann Barsaumo keine Fragen und willigte ein, ihn zu unterstützen.
Zuerst ging er zurück zu seiner Höhle. Das Dorf konnte er erst noch nicht betreten. Sowieso hatte ihn – wie es den Anschein hatte – niemand vermisst und er fürchtete sich in gewisser Weise davor, zu sehen, wo seine Familie war und was sie gerade machte.
Seine Höhle stand leer. Er betrat sie und zu seiner Erleichterung sah er im Zwielicht dann doch noch seine Bücher. Da lag in der Ecke auf der linken Seite, vom Eingang aus gesehen, ein Stapel von fünf dicken Büchern, alle ordentlich übereinander gelegt. Oben drauf war jenes Buch, welches er selbst geschrieben hatte. Er hatte es in englischer Sprache geschrieben und der Titel lautete „Von Sparta bis nach Badibe“ und war ein Historien-Band über die Geschichte Europas und Asiens von der Antike bis zur Gegenwart. Er hob dieses Buch auf und drückte es in seinen Armen fest an seine Brust. Auf dieses Werk war er stolz. Wenn er selbst zu Staub vergangen sei, würde sein Werk fortbestehen. Da draußen bekriegten sich Männer. Jene Männer schlossen ihn aus ihrer Kriegsgemeinschaft aufgrund seiner geringen Körpergröße aus. Für sie zählte nur die Manneskraft. Doch die wahre Kraft stecke nur im Geist. Das jedoch würden diese primitiven Geister niemals verstehen und folglich würden sie ebenso niemals ihn und seine Tugenden wertschätzen.
Nun war er wieder allein. Diese Stille erquickte ihn. Es war so ruhig, so friedlich. Warum konnte es denn nicht einfach nur Frieden zwischen den Völkern geben, fragte er sich. Dies war eine rhetorische Frage, er wusste die Antwort. Er sagte das nur, um sein Bedauern über das Übel der Welt zum Ausdruck zu bringen.
Er setzte sich auf den Boden hin und lehnte seinen Rücken an die Wand an. Nach einigen Minuten schmerzte sein Rücken immer wegen dieser Steinwand. Dann beugte er sich vor, leicht nach vorne oder vergrub sein Gesicht zwischen seinen Beinen.
Warum, fragte er sich, warum war er denn zu Meridschan gegangen. Es sei von Anfang an ein Fehler gewesen. Diese Frau sei von Anfang an falsch gewesen. Mehr denn je war er sich nun sicher, die Menschen waren von Natur aus schlecht. Er ärgerte sich, warum er sie nicht schon viel früher durchschaut hätte. Dann beruhigte er sich, denn er verstand, viele Menschen würden solche Erfahrungen in ihrem Leben machen. Dies gehöre wohl zum Leben dazu, dachte er.
Damals hätte er seine Beziehung zu Soraja vertiefen sollen. Das arme Mädchen hatte er gekränkt. Sie war nicht so falsch wie Meridschan. Als das Roma-Mädchen ihn mit der Kurdin sah, beteuerte jene kurdische Kafrejto, was für einen guten Charakter sie habe und sie ihn wirklich von ganzem Herzen mochte. Er erinnerte sich nun an diese Szene. Wie niederträchtig die Kurdin doch war. Nun hatte er nur noch eine Gelegenheit, nämlich zu Soraja zu gehen und von ihr einen Neuanfang zu erflehen. So stand er wieder auf, nun voller Elan und rannte aus der Höhle heraus. Vorsichtig glitt er den Hang hinab und in Richtung Süden rannte er quer über das Tal zu der Siedlung der Zigeuner. Er lief auf dem Landweg in Richtung des Dorfes Sederi. Wo genau sich die Siedlung der Roma befand, wusste er nicht. Irgendwo im Tal zwischen Badibe und Sederi müssten sie sich aufhalten. Er lief fünf Minuten lang, so schnell er konnte und machte dann eine kurze Verschnaufpause. Dann lief er wieder zwei Minuten und machte wieder eine Pause. Weit und breit sah er keinen einzigen Menschen.
Dann gelangte er schließlich an eine Kreuzung und konnte zum Dorf Sederi hinab schauen. Es
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