Liebe und Völkermord
seinem Zelt postiert hat, das finde ich auch merkwürdig. Und sein Adjutant, dieser Johann Lieb, der erscheint mir auch suspekt“, erwiderte Karim ihm. Muhammad rührte sich nicht. Er lag auf seiner Matte und schaute auf das obere Ende des Zeltes. Karim erhob sich von seinem Platz und stand inmitten des Zeltes. Sein rechtes Bein hing herunter, so stand er rechts zur Seite gekrümmt. „Ich halte ihn dennoch nicht für gefährlich, Bruder. Es stimmt, man sollte nie einem Deutschen trauen. Doch, er ist ein Preuße, er nimmt seinen Beruf sehr ernst. Ich glaube nicht, dass er seinen Ruf wegen solch eines kleinen Streites zwischen euch aufs Spiel setzen würde.“
„ Rede nicht so laut, Karim! Und nenne mich nicht Bruder, solange wie wir uns hier unter diesen Türken befinden! Jemand von ihnen könnte es hören. Nein, gerade weil diese Deutschen ihren Beruf sehr ernst nehmen, ist er doch so gefährlich, Karim! Wir müssen uns in Acht nehmen vor ihm. Am liebsten hätte ich ihn schon verjagt, wenn nicht der Jüsbaschi und der Pascha wären.“
„ Denk nicht so viel darüber nach, Muhammad. Bald wird dieser Spuk an uns vorübergehen und wir können nach Hause gehen.“
Es war bereits Mitternacht und Karim verabschiedete sich von seinem leiblichen Bruder und verließ Agha Muhammad Alis Zelt. Sie waren Brüder und hielten dies vor der Öffentlichkeit geheim. Alia, Muhammads Mutter, hatte eine Cousine väterlicherseits namens Chadidscha. Chadidscha blieb kinderlos. Ihr Kinderwunsch wurde in zunehmendem Alter immer stärker, so wandte sie sich an ihre Cousine. Sie waren seit ihren Kindertagen die besten Freundinnen gewesen. Alia hatte Mitleid mit ihr und schlug ihr vor, ihr ihren nächst geborenen Sohn zu schenken. Muhammad war damals fünf Jahre alt gewesen. Chadidscha konnte nur Lachen und schlug Alias Angebot ab. Doch als sie 42 Jahre alt geworden war und sie nicht mehr blutete, war sie so verzweifelt, sie nahm Alias Angebot doch noch an. Inzwischen jedoch hatte sie Karim geboren und er war schon ein Jahr alt geworden. Alia gab eines Tages ihrem Mann Mustafa vor, eine Reise nach Syrien zu unternehmen. Der großzügige Mustafa erlaubte ihr, die beiden Söhne mit auf die Reise zu nehmen. In Wahrheit aber reiste Alia zu ihrer Cousine nach Dijabakir. Dort ließ sie einen Tag lang Muhammad bei ihrer Tante Rahima. Sie übergab Chadidscha ihren Säugling und kam weinend und mit zerzausten Haaren zu ihrer Tante zurück und erzählte, eine Gruppe von christlichen Banditen habe sie überfallen und ihren Sohn geraubt. Sie selbst habe mit Allahs Hilfe fliehen können.
Muhammad hatte seiner Mutter diese Geschichte nie geglaubt. Nach fünf Jahren besuchte er mit seiner Mutter wieder seine Tante Chadidscha und sah ihren Sohn. Als er den Jungen sah, schöpfte er Verdacht, doch sagte er zu niemand ein Wort. Erst zehn Jahre später, als sie im Sterbebett lag, beichtete ihm seine Mutter die ganze Wahrheit. Muhammad seinerseits jedoch respektierte die Entscheidung seiner Mutter und ließ Karim bei Chadidscha weiterleben. Erst als jene gestorben war, besuchte er ihn und klärte ihn über seine wahre Herkunft auf. Er nahm ihn mit nach Mardin, doch lebten sie getrennt voneinander und stellten ihre Verwandtschaft nie in den Vordergrund. Wenn es einmal zur Sprache kam, dann behaupteten sie, sie seien Cousins zweiten Grades.
Er schlief tief. Sein Mund blieb offen die ganze Nacht lang. Er schnarchte nicht. So lange schon hatte er nun keine Frau in seinem Bett gehabt. Da war die schöne Fatima. Er hatte sie zurückgelassen. Sie war immer noch verstört und traumatisiert. Würde sie überhaupt irgendwann seine Frau werden, fragte er sich. Und jetzt, wo er sich hier in dieser Einöde befand, wo war sie? Vielleicht hatte sie sich bereits aus dem Haus heraus geschlichen und war weggerannt. Er blieb ruhig. Egal, wohin sie fliehen würde, er würde sie finden.
Unweigerlich tauchte Aische wieder in seinem Traum auf, wieder und wieder. Im Tiefschlaf schüttelte er den Kopf. Er flüsterte: „Nein! Nein! Ich bin gleich da!“
Es waren die Schuldgefühle, nicht rechtzeitig da gewesen zu sein, als sie ermordet wurde, welche ihn plagten. Sie bedrückten immer noch seinen Geist. Immer noch hatte er keine Ahnung, wer der Mörder seiner geliebten Frau war.
Die Hassfigur seines Lebens, Agha Bilad, umgebracht zu haben, war kein Trost in diesem Fall. Er durfte aber, so dachte er, als Agha keine menschlichen Schwächen, keine Gefühle, zeigen.
Es war schon
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