Liebe und Völkermord
eine Stunde vergangen nach Karims Abgang, als rechts von ihm, eine Gestalt von draußen mit einem Dolch, einem persischen
Schamschir, in den Stoff des Zeltes stach. Langsam bewegte sich die Klinge und schnitt ein Loch in Form eines Kreises von etwa 30 Zentimetern Durchmesser in das Zelt. So scharf war die Klinge und so geschickt führte sie die unsichtbare Gestalt, nicht einmal die Hunde bemerkten etwas.
Als die Gestalt den Kreis in den Stoff fertig geschnitten hatte, fiel er nach außen hin vor ihr auf den Boden. Im nächsten Moment schon befand sich der Dolch nur um Haaresbreite unter der Kehle des Aghas. Die Menschengestalt war vollverschleiert. Nur ihre dunkelbraunen Augen waren durch einen Schlitz der Kleidung zu sehen. Sie machte kein einziges Geräusch. Weder ihre Füße noch ihr Mund noch ihr Dolch machten irgendein Geräusch, wodurch die Gestalt hätte geortet werden können.
Der Agha schwitzte und schüttelte im Schlaf seinen Kopf.
Die Gestalt führte die Klinge vorsichtig an seinen Adamsapfel. Der Schnitt sollte sauber und schnell vonstatten gehen und der Agha ohne ein Todesgeschrei sein Leben aushauchen.
Dann aber – was die Gestalt nicht erwartet hatte – öffnete Muhammad sofort seine Augen und erhob sich. Die Klinge war noch auf seiner Kehlkopfhöhe. Als er sich aufsetzte, gelangte die Klinge an seine Brust. Seine Augen waren noch halb geschlossen. Er kniff sie zu und öffnete sie wieder und bemerkte, was mit ihm geschah. Sogleich schrie er. Er schrie sehr laut. Die Gestalt zog ihre rechte Hand mit dem Dolch zurück und verschwand sofort in der Dunkelheit, wie ein sich in Luft auflösender Schatten.
Nun waren seine Augen weit aufgerissen. Er rieb sich den Schmalz von den Augen. Er sprang auf von der Matte und stand nun mitten im Raum und schaute auf das große Loch im Zelt neben seinem Schlafplatz. Er trug noch sein weißes Unterhemd, weswegen der Dolch ihm keine Wunde zufügen konnte.
Im nächsten Moment betrat Karim das Zelt, hinter ihm folgten Abdul und Raschid. Karim fragte ihn, was denn geschehen sei. Muhammad starrte auf das Loch, Karim schaute ihm in die Augen, folgte seinem Blick und sah nun auch das große Loch in der Seite des Zeltes. Es war ein Attentat auf ihn verübt worden.
Muhammad schnurrte. Seine rechte Hand ballte er zu einer Faust. „Dieser verdammte Deutsche wollte mich umbringen!“
Scheich Fathallah
„ Nein, ich lebe hier allein“, antwortete Meridschan Mahmud und zwang sich dabei ein Lächeln auf die Lippen und ließ sich ihre Anspannung nicht anmerken. Ein Raunen ging durch die Menge hinter Mahmud. Sie glaubten ihr kein Wort. Darauf konnte Mahmud von ihnen erwirken, ihn allein in ihr Haus zu lassen, um nach dem kleinen Mann zu suchen.
Meridschans Herz schlug höher. Sie hatte keine andere Wahl, sie musste ihn gewähren lassen.
Mahmud trat vorsichtig ein. Sie schloss hinter ihm die Tür. Sie schwiegen. Er ging zuerst ins Wohnzimmer und schaute sich um. Dort hielt sich kein Mensch auf. Dann stöberte er im Schlafgemach herum, dort befand sich ebenfalls keine kleine Menschengestalt. Zuletzt ging er in den engsten der drei Räume. Dort im Eingang der Küche blieb er entsetzt stehen. Matthias lag, mit dem Kopf zwischen seinen Beinen vergraben, in der rechten Ecke neben dem Eingang. Hätte Mahmud den Raum nicht betreten, hätte er ihn nicht gesehen.
Meridschan hielt ihre rechte Hand vor ihrem Mund und schaute deprimiert aus. Sie befürchtete das Allerschlimmste für ihren aramäischen Freund. Was hätte sie jetzt tun sollen? Mahmud erschlagen, das wäre reiner Irrsinn gewesen, denn draußen vor ihrer Tür standen viele andere Männer. Also verwarf sie diese Idee.
Sie wollte ihn anflehen, ihn darum bitten, ihren Freund zu verschonen, ihn nicht zu verraten. Sie war verzweifelt.
Gerade wollte sie sich zu seinen Füßen werfen, da drehte er sich seltsamerweise um. Sie sah in seinen Augen etwas Seltsames. Er hatte nicht vor, Matthias an die Muslime auszuliefern, war sie sich sicher.
In der Tat hatte Mahmud nicht vorgehabt, den Jungen ans Messer zu liefern. Ihm war bei seiner letzten Begegnung das merkwürdige Verhalten des Imams Musa Ibrahim aufgefallen. Seine Frau hatte am Morgen noch gelebt, er hatte sie mit seinen eigenen Augen gesehen.
Und jetzt, wo er Matthias dort liegen sah, konnte er sich nicht vorstellen, wie dieser kleine Mann diese alte Frau einfach so getötet hätte.
Meridschan bückte sich zu Matthias vor. Er schaute zu ihr auf. Sie
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