Liebe und Völkermord
nun auch verschwunden oder sein Gehirn nahm sie nicht mehr wahr.
Dann geschah etwas, was beide nicht für möglich gehalten hatten.
Der Zigeuner Schahin tauchte mit zwei anderen Männern auf. Die beiden anderen Männer waren seine Cousins mütterlicherseits, sie waren ihm nur gefolgt, da sie sich in Kindestagen gegenseitig ewige Treue geschworen hatten. Soraja konnte es nicht glauben. Schahin war wohl nur gekommen, um Eindruck bei ihr zu schinden. Aber in diesem Moment spielte das keine Rolle mehr, denn er war gekommen. Er hatte es getan. Sie drehte sich zu ihnen um. Die drei Männer liefen nun, ihr entgegen. Sie sahen die kämpfenden Aramäer oben auf dem Hügel. Bevor sie sie erreicht hatten, streckte das Mädchen ihren linken Arm aus und deutete auf den Hügel. „Beeilt euch, ihr müsst nach oben zu ihnen!“
Alle drei Männer schnaubten, sie nickten und rannten über die Weide, die Ebene vor dem Hügel, zum Hügel und eilten den Hang hinauf.
Die aramäischen Männer, und die Jesiden, bemerkten nicht die herannahenden Zigeuner, da sie sich ganz auf die Feinde unten konzentrierten. Sie konnten sich keinen Moment der Ablenkung, der Pause, leisten. Schahin wagte es nicht, irgendein Wort zu sagen. Irgendwann hielt Tuma inne, jener junge Mann aus der Sippe des Malke, der beste Freund von Barsaumo. Er schaute die Fremden verwundert an. Er dachte, er würde nur träumen und die Gestalten seien nicht real. Dann schrie er heraus: „Wer seid ihr? Was wollt ihr von uns?“
Abuna Isa und einige andere Männer hielten nun auch kurz inne und bemerkten sogleich die jungen Zigeuner. Der Pfarrer erkannte sogleich, wer sie waren. „Sie gehören der Karawane an. Sie kommen in Frieden. Sie wollten uns bestimmt unterstützen.“
Derweil standen Soraja und Matthias immer noch unten auf dem Gehweg und beobachteten die Männer auf dem Hügel. Sie konnten nicht viel erkennen. Die Männer oben sahen aus dieser Entfernung wie dunkle Männchen aus. Auch wenn sie noch so gut horchten, sie konnten akustisch kein einziges Wort von ihnen verstehen.
„ Im Dorf ist die Hölle los. Die Kinder weinen und die Frauen haben Angst. Sie brauchen jemanden, der sie beruhigt und tröstet.“
Matthias sagte dies nicht zu ihr, um sie loszuwerden. Er wollte ihr das wohl grausame Schauspiel ersparen. Es war nicht der richtige Ort für eine Frau. Sie verstand ihn nicht und schaute ihn sogar grimmig an. Schließlich war sie doch nur Seinetwegen gekommen und nun wollte er sie fortschicken. Doch sie dachte nicht daran, fortzugehen. Sie wollte sehen, was ihre Volksgenossen tun würden. Sie schämte sich vor den aramäischen Frauen und traute sich nicht, vor ihnen zu treten und bei ihnen zu bleiben. Das aber konnte sie Matthias nicht beichten. „Ich bleibe hier. Vielleicht verletzen sich meine Leute. Dann will ich zur Stelle sein.“
Der Aramäer schwieg. Ihre Anwesenheit bereitete ihm ein unbehagliches Gefühl. Nicht, da sie ihn nervös machte, sondern, weil er sich nur allein konzentrieren und nachdenken konnte. Er musste allein sein. Nun schwitzte er. Der Schweiß trat aus seiner Stirn hervor, aus seinen Achselhöhlen und aus seiner Brust. Jeder weitere Moment kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor.
Dann sahen sie Männergestalten den Hang heruntergehend. Sie wurden immer größer. Sie schlenderten über die Weide. Schahin und seine beiden Cousins kamen enttäuscht wieder zurück. Soraja fragte sie, was denn geschehen sei. Schahin antwortete ihr, die Aramäer hätten ihnen nicht über den Weg getraut. Sie hätten behauptet, sie hätten nicht mehr genug Munition und sie würden es schon allein gegen die Türken schaffen. Soraja bedankte sich bei ihnen für ihr Kommen. Zumindest hätten sie den Aramäern ihre Hilfe angeboten. Die jungen Männer schlenderten den Gehweg entlang zurück ins Dorf auf ihrem Heimweg. Soraja blieb zurück. Schahin hatte den kleinen Mann neben ihr gesehen und hatte ihn nicht weiter beachtet. Alles, was er zu ihm oder über ihn gesagt hätte in jenem Moment wäre taktlos gewesen. Eine Liebesbeziehung zwischen dem Kleinwüchsigen und Soraja hielt er für ausgeschlossen. So machte er sich weiter keine Gedanken über den kleinen Mann in der Gegenwart seiner Verehrten.
Das Mädchen starrte zwar weiterhin auf den Hügel, doch ihre Gedanken kreisten um Schahin und Matthias. Sie hatte Schahin nie gemocht, doch dieser Mann hatte nun Mut und Anstand gezeigt. Er war bereit an der Seite von Christen gegen Muslime zu kämpfen. Dies freilich
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