Liebe und Völkermord
Beerdigungen spielte. Soraja stand nur einen Schritt vor ihm. Sie atmete schwer, sie beugte sich vor, ihre Arme auf ihre Oberschenkel gedrückt und versuchte, ihr Herz wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Rahman schaute sie kein einziges Mal an, er konzentrierte sich auf seine Mandoline. Er hatte ein großes, rundes, schwarzes Muttermal zwischen seinen Augenbrauen und oberhalb seiner Nase. Immer bevor er sprach, dachte er eine Weile nach und wählte seine Worte sorgfältig.
„ Vater, sie schießen auf die Aramäer. Sie wollen sie alle töten. Wir müssen ihnen helfen!“, sprach Soraja mit ihren letzten Kräften.
Rahman schaute sie kurz an, wandte sich dann jedoch wieder seiner Mandoline zu. Er spielte einen neuen Satz. Dann schaute er sie wieder an. „Warum bist du wieder zu ihnen gegangen? Ich habe dir doch gesagt, wir mischen uns nicht in Dinge ein, die uns nichts angehen.“
„Wir können doch nicht einfach zusehen, wie sie sie umbringen! Sie wollen sie töten, nur weil sie Christen sind. Sind wir Muslime wirklich so grausam?“
Mitten im nächsten Satz hielt Rahman inne. Er starrte auf die Seiten seiner Mandoline, dann seufzte er.
Das zierliche Mädchen ging auf den nächsten Mann zu, ihren Onkel Hussein, den einzigen Bruder ihres Vaters.
Sie sah furchtbar aus. Ihr Haar war zerzaust. Hussein, an den sie nah herangetreten war, konnte sogar den üblen Geruch des Schweißes ihrer Achselhöhlen riechen.
Sie sprach weitere Männer an, redete ihnen ins Gewissen, auch dem jungen Schahin.
Sie trat zurück und stand nun wieder dort, wo sie zuerst stehen blieb, als sie ihr Volk erblickte. Da hockten melancholische Männer herum, sie wussten nicht, was sie den ganzen Tag lang tun sollten. Rahman spielte weiter auf seiner Mandoline, Hussein nahm seinen zwei Jahre alten Sohn auf seinen Schoß und Schahin saß auf einem Baumstamm und starrte nachdenklich vor sich hin.
Das junge Mädchen verstand nicht, wie diese Männer einfach so tatenlos sitzen bleiben konnten. Sie waren Feiglinge, nichts Anderes als Feiglinge. Sie wollte ihnen das ins Gesicht sagen, doch sie entschloss sich, ihre Kräfte zu sparen.
Sie rannte zurück in Richtung des Dorfes.
Madschid hatte ein verlaufenes Schaf oben auf dem Gipfel des Berges, nebst dem Land seines Vaters, gesucht. Er hatte die heranrückende Armee aus dem Tal Syriens gesehen und war schockiert ins Dorf gerannt. Seine Herde hatte er achtlos zurückgelassen. Gleich sofort hatte das Dorf die Verteidigung organisiert. Abuna Isa holte seine drei Gewehre aus seinem Haus, mitsamt über 100 Patronen. Er gab den Söhnen des alten Muksi Antar zwei Gewehre. Isa bewaffnete seine Söhne, Madschid und Siwar. Sogar der alte Aljas nahm das Gewehr und nahm an den Kampfhandlungen teil.
Muchtar Murad spielte den Anführer. Er schrie die jungen Männer an, sie sollten nicht überheblich sein, ein kleiner Fehler könnte ihnen allen das Leben kosten.
Sie waren 40 Männer, die jungen sechzehnjährigen Enkel des Muksi Antar mit eingerechnet.
Badibe lag hoch oben auf einem Berg, umgeben von Hügeln höher als zehn Meter. Egal von welcher Seite aus die Angreifer gekommen wären, sie hätten es sehr schwierig gehabt, die Anhöhe zu überwinden.
Unten im Tal stand die Armee des Ali Pascha, 5000 Mann Infanterie. Ali Pascha hatte zwar den Jüsbaschi Mustafa Ali benachrichtigt, doch die kurdischen Krieger sollten sich erst später, wenn die Türken Badibe überrannt und nach Kafro vorgedrungen wären, vereinen. Nun waren sie jedoch unerwarteterweise auf Widerstand seitens der Aramäer gestoßen.
Zwar waren die Männer des Ali Pascha weit in der Überzahl, doch sie waren ein leichtes Ziel für die vortrefflichen aramäischen Schützen oben auf der Anhöhe. Die Aramäer schütteten die Erde auf und bildeten Schutzwälle.
Die Türken rückten in Zwanzigerreihen voran, schossen dabei eine Salve nach der anderen auf die Aramäer ab, doch bevor sie die Hälfte der Anhöhe erreichen konnten, waren sie bereits von den Verteidigern niedergeschossen worden. Der Pascha beobachtete mit Entsetzten in seinen Augen, wie seine Männer, einer nach dem anderen, umkamen. Er musste seine Ehre retten, seine Vorgesetzten hätten ihn verspottet, wenn er gegen diesen Haufen von Bauern verloren hätte.
Auf der Seite der Aramäer waren Abuna Isa und Muchtar Murad die tapfersten. Sie feuerten ihre Leute an, packten überall mit an und jede ihrer Kugeln traf einen ihrer Feinde tödlich. Nach einer Stunde des Gefechtes
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