Liebe unter kaltem Himmel
ob er für uns infrage kommt.«
»Habt ihr das? Typisch!«, sagte Tante Emily. »Aber ich könnte mir vorstellen, dass er für Polly wirklich infrage kommt – dann wäre doch alles geregelt.«
»Das sähe dem Leben aber gar nicht ähnlich«, sagte Davey. »Oh, verflixt, jetzt habe ich über der Unterhaltung mit Fanny meine Drei-Uhr-Pille vergessen.«
»Nimm sie jetzt«, sagte Tante Emily, »und dann geht ein bisschen nach draußen, bitte.«
Von nun an sah ich Polly ziemlich häufig. Wie jedes Jahr kam ich zum Jagen nach Alconleigh und fuhr von dort oft für ein, zwei Tage nach Hampton. Große Hauspartys wurden dort nicht mehr veranstaltet, stattdessen herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, und wie es schien, waren die Montdores und Polly bei ihren Mahlzeiten nie allein. Boy Dougdale kam fast jeden Tag von seinem Haus in Silkin herüber, das nur zehn Meilen entfernt war. Nicht selten fuhr er zwischendurch noch einmal nach Hause, um sich für das Dinner umzuziehen, kam dann zurück und verbrachte den Abend in Alconleigh, denn Lady Patricia war anscheinend nicht wohlauf und ging gern früh zu Bett.
Boy kam mir nie ganz wie ein wirklicher Mensch vor, und es lag, glaube ich, daran, dass er immer eine Rolle spielte, einmal den Don Juan, dann den ehemaligen Eton-Schüler und schließlich den Gutsherrn von Silkin oder den versierten Weltbürger. Aber in keiner dieser Rollen war er ganz überzeugend. Der Don Juan kam nur bei ganz einfachen Frauen zum Zuge, wenn man von Lady Montdore einmal absah, und sie behandelte ihn wie einen Gesellschafter oder einen Privatsekretär, aber nicht wie einen Liebhaber, auch wenn die Beziehung der beiden früher eine andere gewesen sein mochte. Der Gutsherr spielte mit der Dorfjugend auf eine etwas hinterhältige Art Kricket und hielt Vorträge für die Frauen des Dorfes, aber allen Bemühungen zum Trotz wirkte er nie wie ein wirklicher Gutsherr, und um den versierten Weltbürger war es geschehen, sobald er den Pinsel auf die Leinwand oder die Feder aufs Papier setzte.
Wenn sie sich auf dem Land aufhielten, waren er und Lady Montdore nämlich immer sehr mit dem beschäftigt, was sie »ihre Kunst« nannten, und stellten Dutzende von riesigen Porträts, Landschaftsbildern und Stillleben her. Im Sommer arbeiteten sie im Freien, und im Winter rückten sie einen großen Ofen in ein nach Norden gelegenes Schlafzimmer, das sie als Atelier benutzten. Jeder bewunderte die eigenen Werke und die des anderen so sehr, dass ihnen die Meinung der Außenwelt kaum etwas bedeutete. Alle ihre Bilder ließen sie rahmen und hängten sie in ihre beiden Häuser, die besten in die Zimmer, die anderen in die Flure.
Gegen Abend liebte es Lady Montdore, sich ein wenig zu entspannen.
»So gefällt es mir«, pflegte sie zu sagen, »tagsüber harte Arbeit und am Abend angenehme Gesellschaft und vielleicht ein Kartenspiel.«
Zum Dinner waren immer Gäste da, ein oder zwei Oxford-Professoren, vor denen sich Lord Montdore mit Livius, Plotin und der Familie der Claudier hervortun konnte, Lord Merlin, der sehr hoch in Lady Montdores Gunst stand und landauf, landab ihre Aussprüche verbreitete, schließlich auch die wichtigeren Nachbarn aus der Grafschaft – in einer genau festgelegten Reihenfolge abwechselnd. Selten setzten sich in Hampton weniger als zehn Personen zu Tisch; es war ganz anders als in Alconleigh.
Ich war gern in Hampton zu Besuch. Lady Montdore erschreckte mich immer weniger und bezauberte mich immer mehr, Lord Montdore blieb, wie er war, freundlich und farblos, bei Boy schüttelte es mich nach wie vor, und Polly wurde nach Linda meine zweitbeste Freundin.
Irgendwann meinte Tante Sadie, ich könne Polly gern einmal mit nach Alconleigh bringen, was ich auch sogleich tat. Der Zeitpunkt war für den Besuch nicht sehr günstig gewählt, da wegen Lindas Verlobung im ganzen Haus eine ziemliche Aufregung herrschte, aber Polly schien davon nichts zu bemerken, und zweifellos hielt ihre Anwesenheit Onkel Matthew davon ab, der ganzen Gewalt seiner Gefühle freien Lauf zu lassen. Als wir anschließend zusammen nach Hampton zurückfuhren, meinte sie sogar, sie beneide die Radlett-Kinder darum, dass sie in einer so ruhigen, liebevollen Umgebung aufwachsen durften. Aber so etwas konnte nur jemand sagen, der das allerbeste Gästezimmer außerhalb der Reichweite von Onkel Matthews frühmorgendlichen Grammofonkonzerten bewohnt und diesen gewalttätigen Mann nie bei einem seiner Wutanfälle erlebt hatte. Trotzdem
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