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Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
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Und die Worte »Liebe« und »Ehe«, »Freiheit« und »Treue« werden so verwendet, als gehe es vom Jahr 1200 bis heute stets um das Gleiche. Nach Rougemont beschäftigt sich das Mittelalter dabei durchgängig mit ein und demselben Konflikt, nämlich jenem zwischen Leidenschaft und Ehe. Was ist wichtiger und richtiger: Die leidenschaftliche Liebe oder die genügsame Ehe?
    Für Rougemont ist die Liebe Erfahrung, aber nicht Erfindung. Doch schon der vielfach verwendete Begriff der »höfischen Liebe« ist in Wahrheit eine Erfindung aus dem Jahr 1883, geprägt von dem Romanisten Gaston Paris. Ein starres, allgemein
verbindliches Konzept, wie ein Ritter oder Minnesänger zu lieben hatte, gab es gar nicht. Viele Menschen stellen sich die Liebe im Mittelalter so vor, wie sie von den höfischen Dichtern, den Minnesängern oder den Troubadours besungen wurde. Denn nahezu alles, was wir über die Liebe im Mittelalter wissen, kennen wir aus ihren Texten. Kurz gesagt: Wir wissen heute viel mehr über die Liebe in der mittelalterlichen Literatur als über die Liebe im tatsächlichen Leben.
    Um ein Buch über mittelalterliche Liebeserfahrungen zu schreiben, muss man also entweder sehr jung sein oder sehr unerschrocken oder beides. Trotz seiner vielen Lektüren nämlich verstand Rougemont vom Mittelalter in etwa so viel wie Desmond Morris von der Steinzeit. Doch tatsächlich ergibt nicht einmal die überlieferte Literatur ein irgendwie einheitliches Bild. Ein wichtiger Grund ist: Die Dichter des Mittelalters breiteten ihre Liebesideen stets im Rahmen von ziemlich starren Gattungen aus. Ob ich die Liebe in einem Tagelied, einer Minnekanzone, einem Kreuzlied oder einer Pastourelle besinge – jedes Mal ist der Schwerpunkt woanders. Und zwischen den hehren Liebeskonzepten des höfischen Epos und den derben Schwänken der Jahrmärkte liegen Welten. »Kein Mensch hat damals so gelebt wie die Helden der Artus-Romane, deren ganzes Streben darauf gerichtet war, in Ritterkampf und Minnedienst höfische Vorbildlichkeit zu erringen. Die Dichter haben eine Märchenwelt beschrieben« 85 , schreibt der Altgermanist Joachim Bumke. Und »was höfische Liebe ist, scheint heute weniger sicher zu sein als vor hundert Jahren«. 86
    Vermutlich war die Liebe im Mittelalter nicht weniger vielfältig, widersprüchlich, variabel, milieu- und bildungsabhängig als in der Gegenwart. Sie war sexuelles Vergnügen, Gier und Leidenschaft ebenso wie eine Tugend oder eine »Kunst«. Seit dem römischen Dichter Ovid, der zweitausend Jahre vor Erich Fromm die erste »Kunst des Liebens« (Ars amatoria ) schrieb, gibt es den Liebeskult und den Liebesdienst mal gleichrangig,
mal höher gestellt zu den Gelüsten des Fleisches. Und das eine zu beschwören und gleichwohl auch das andere zu wollen, war den Menschen in der Antike und im Mittelalter wohl nicht weniger fremd als vielen Menschen heute.
    Die mittelalterliche Liebe gibt es nicht. Sie ist eine Erfindung der Nachwelt. Geschichte wird immer von der Gegenwart zurück in die Vergangenheit geschrieben. Und die Ereignisse früherer Zeiten erscheinen im Rückblick gerne als Vorstufen. In dieser Sicht war die mittelalterliche Gesellschaft eine starre Ständegesellschaft, in der die romantische Liebe nur zaghaft als Ideal besungen, aber, anders als heute, noch nicht gelebt werden konnte. Besonders der deutsch-jüdische Soziologe Norbert Elias trug seit 1939 dazu bei, diese Sicht in den Köpfen vieler Wissenschaftler zu verankern. In seinem zweibändigen Werk Über den Prozess der Zivilisation beschreibt er die Geschichte der abendländischen Kultur als eine kontinuierliche Höherentwicklung. Aus Derbheit wird Sitte, aus Unmoral wird Tugend, aus Zwang wird Freiheit. Und aus den gesellschaftlichen Liebeszwängen heraus entwickeln sich nach und nach erst das Ideal und später die Praxis der freien und romantischen Liebe.
    Diese bis heute weit verbreitete Sicht ist weder ganz falsch noch ganz richtig. Sie ist plausibel, insofern die Freiheit und die Wahlmöglichkeiten in den Ländern des Westens vom Mittelalter bis heute zweifelsohne zugenommen haben. Das gilt gewiss auch für die Liebe. Wo früher unüberwindbare Standesgrenzen und unverrückbare Verhaltensregeln die Menschen einengten, ist die Gesellschaft heute vergleichsweise durchlässiger. Und auch die Regeln des Liebesmarktes sind liberaler geworden. Falsch an der Geschichte vom Zivilisationsprozess hingegen ist die Annahme, dass dieser Prozess kontinuierlich gewesen

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