Liebe
halte, für angemessen oder für schön, finde ich nicht tief in mir selbst. Ich übernehme diese Vorstellungen von außen. Die Gesellschaft gibt mir das Sinnangebot vor, aus dem ich mehr oder weniger stark auswählen kann. Doch schon die Kriterien, nach denen ich auswähle, habe ich nicht selbst erfunden, sondern übernommen.
Die Wahrheitsspiele der Gesellschaft beeinflussen den Menschen nicht nur in seinem Urteil, sondern sie bestimmen auch sehr weitgehend darüber, wie er sich fühlt. Jeder Selbstentwurf und jedes Selbstgefühl eines Menschen setzen sich aus Fremdentwürfen und Gefühlsvorgaben zusammen. Und die Fragen, die Foucault durchexerziert hatte, waren – in seinen eigenen Worten – die Fragen: »Anhand welcher Wahrheitsspiele gibt sich der Mensch sein eigenes Sein zu denken, wenn er sich als Irren wahrnimmt, wenn er sich als Kranken betrachtet, wenn er sich als Kriminellen beurteilt und bestraft?« Und schließlich: »Anhand welcher Wahrheitsspiele hat sich das Menschenwesen als Begehrensmensch erkannt und anerkannt?« 82
Foucault selbst hat sehr viel über die Sexualität geschrieben, aber nur auffallend wenig über die Liebe. Seine Fragen allerdings lassen sich auch an die Liebe stellen: Anhand welcher Wahrheitsspiele nimmt sich der Mensch als ein liebender und geliebter Mensch wahr? Die Betrachtungsweise könnte sehr ähnlich sein: Wenn es richtig ist, dass die Gesellschaft das, wovon sie redet,
selbst erzeugt, dann ist »Liebe« ein gesellschaftliches Konzept. Die »Liebe an sich« gibt es nicht. Was unter »Liebe« verstanden wird, wie diese gesehen, bewertet, abgegrenzt und zu anderem in Beziehung gesetzt wird, wäre ein Produkt von (An-) Ordnungsprozessen.
In solcher Sichtweise müsste man Liebe als einen gesellschaftlichen Effekt sehen. Und sie wäre genau das krasse Gegenteil von dem, was David Buss in seinem Lehrbuch über evolutionäre Psychologie behauptet, dass nämlich »Menschen aller Kulturen weltweit Gedanken, Gefühle und Taten der Liebe erfahren – von den Zulu an der Südspitze Afrikas bis zu den Eskimos in der Eiswüste Alaskas«. Und dieses »Phänomen der Liebe« sei überall strukturell gleich – erkennbar am Singen von Liebesliedern, an Liebenden, die gegen den Willen ihrer Eltern durchbrennen, an Gedichten sowie »volkskundlichen Hinweisen auf romantische Verbindungen«. 83
Um die gesellschaftliche Dimension unserer Liebe und unserer Liebesvorstellungen richtig einzuschätzen, müssen wir uns also zwischen zwei nahezu unversöhnlichen Positionen bewegen. Welche Sicht der Dinge ist die richtige? Ist Liebe überall und immer das Gleiche? Oder ist sie der eher flüchtige Effekt eines gesellschaftlichen »Wahrheitsspiels«? Geht es nach dem evolutionären Psychologen David Buss, dann lieben alle Menschen zu allen Zeiten gleich. Und nur die Regeln für Zusammenkünfte, Heiraten und Ehen sind kulturell verschieden. Geht es nach dem Philosophen Foucault, so ist die Liebe gar nicht existent, sondern es gibt nur ihre sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Konzepte.
Kurz gefragt: Ist die romantische Liebe ein Teil unserer Natur oder unserer Kultur? Ist sie überzeitliche Erfahrung oder vorübergehende Erfindung?
Die Liebe und das Abendland
Der Versuch, die Geschichte unserer Liebesvorstellungen zu schreiben, wurde nur selten gewagt. Eines der wenigen Beispiele ist das Buch Die Liebe und das Abendland des Schweizer Autors Denis de Rougemont aus dem Jahr 1938. Der Titel ist so schön wie gewaltig. Und da es bis heute keine »Liebe und das Morgenland« gibt, steht es noch immer ziemlich einzigartig in der Landschaft. So vergessen der Verfasser des Werkes heute ist, so berühmt war er vor 50 Jahren. Schon als junger Mann schrieb der Pastorensohn aus der französischen Schweiz sein ehrgeiziges und umfangreiches opus magnum. Es hat ihn nach eigener Aussage »eine Stunde« gekostet »und das ganze Leben«. 84 Seine ganze Jugend habe er mit der Frage gelebt, was das sei: die Liebe in der Tradition des Abendlandes. Zwei Jahre lang habe er sich Notizen gemacht und alles Erdenkliche zum Thema gelesen.
Das Ergebnis ist eine recht eigentümliche Mischung aus Literaturwissenschaft und Mentalitätsgeschichte. Drei Jahrzehnte vor Foucault schaut Rougemont noch nicht auf die »Konstruktion« der Liebe, sondern er nimmt die Mythen, Texte und Legenden des Abendlandes so ernst, als handele es sich dabei um zeitlose Aussagen über den Menschen, über die Männer und Frauen und über die Liebe.
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