Liebe
in Paris und engagiert sich in der Studentenbewegung. Die Universität von Vincennes, ein neu gegründeter akademischer »Experimentalraum« der französischen Linken, bietet ihm eine Professur an. Seine Position ist radikal, manchmal verrückt. Er schwadroniert über »Volksfeinde« und »Volksgerichte«, verteidigt die Massaker der Französischen Revolution und begeistert sich für die chinesische Kulturrevolution. Nur unter Mühen gelingt es seinen einflussreichen Förderern, Foucault zu einer ordentlichen Professur und Karriere zu verhelfen. 1970 übernimmt er den von ihm selbst neu definierten Lehrstuhl zur »Geschichte der Denksysteme« am ehrwürdigen College de France.
Foucaults Sicht der Welt ist das krasse Gegenteil zum Menschenbild und zur Weltsicht der evolutionären Psychologie, die zeitgleich in Berkeley und in Oxford entsteht. Als Erforscher von Denksystemen gibt es für Foucault keine sicheren Fundamente, sondern nur Ordnungsversuche des menschlichen Geistes. Die Begriffe, um die sich alles dreht, sind »Wissen«, »Wahrheit« und »Macht«. Wie Sartre, so sieht auch Foucault den Menschen als ein Lebewesen ohne natürliche Eigenschaften, als ein »nichtfestgestelltes Tier«. Vielmehr führt er ein Leben, in dem er seine Welt unausgesetzt interpretiert. Die Deutungsinstanzen mit ihren selbst geschaffenen Spielregeln bestimmen darüber, wie die Gesellschaft etwas beurteilt und wie die Menschen die Welt sehen. Mit diesem Rüstzeug machte er sich Anfang der 1970er an die Erforschung der Sexualität.
Wenn Sartre der Faust der französischen Philosophie im 20. Jahrhundert ist, so ist Foucault ihr Mephisto – der Geist, der stets verneint, was andere für sicher halten. Ein schlanker glatzköpfiger Dandy im weißen Rollkragenpullover, ein agent provocateur
der Szene. Seine homosexuellen Lieben und Affären bestimmen sein Leben und die Schlagzeilen. Anfang der 1970er Jahre begibt er sich an sein mehrbändiges Mammutwerk: Histoire de la sexualité (»Sexualität und Wahrheit«).
Foucaults Ziel ist es herauszufinden, wie die Gesellschaft unsere Vorstellungen von Sexualität und unser Selbstverständnis von Lust und Erotik bestimmt. Dafür begibt er sich zurück zu den Ursprüngen der christlichen Weltanschauung. Anders als nahezu alle anderen Historiker sieht Foucault das Christentum nicht einfach als eine autoritäre Macht, die die Sexualität der Menschen durch Verbot und Gesetz einschränkt. Foucault begreift die Sexualmoral des frühen Christentums als eine neue Form von »Selbstbildung« und als eine Anleitung zu neuen »Lebenstechniken«. Les Aveux de la chair (»Die Geständnisse des Fleisches«) wird später der chronologisch letzte Teil seiner vierbändigen Reihe und nie veröffentlicht. 1976 erscheint La Volonté de savoir (»Der Wille zum Wissen«), eine Art Einleitung, die das Programm der Serie erklärt und zusammenfasst: die Erforschung der menschlichen Sexualität unter dem Einfluss von Herrschaftsstrukturen und Macht. Wie konnte aus der Erfindung eines neuen christlichen Menschenbildes eine neue Form der Erfahrung für die Menschen werden? Denn nicht die Erfahrung bestimme die Erfindung. Nach Foucault ist es gerade umgekehrt: Das gesellschaftliche Konzept gibt unseren Erfahrungen die Form. Wir sind, was wir zu sein glauben. Und was wir zu sein glauben, hängt sehr maßgeblich von der Gesellschaft ab, in der wir leben.
»Der Wille zum Wissen« bildet später den ersten Band. Statt, wie zu vermuten, weiter in die Gegenwart zu schreiten, geht Foucault bei seinem nächsten Buch überraschenderweise zeitlich noch hinter das Christentum zurück. L’Usage de plaisirs (»Der Gebrauch der Lüste«) und Le Souci de soi (»Die Sorge um sich«) erforschen das Sexualverhalten der klassisch griechischen Welt. Auf welche Weise verknüpften die Griechen in der Antike Sexualität
und Moral? Und wie schufen sie ihre Vorstellungen und Regeln von einem guten Umgang mit ihrer Intimität?
Die letzte Korrektur der beiden Bände erledigt Foucault unter größten Schmerzen und völliger Erschöpfung, geschwächt von einer, wie er meint, »elenden Grippe«. Die Publikation im Frühsommer 1984 erlebt er im Krankenhaus. Am 25. Juni ist Foucault tot – gestorben an AIDS.
Was hatte Foucault wissenschaftlich geleistet? In der Tat hatte er eine völlig neue Sicht der Dinge präsentiert. Er hatte die Spielregeln, die »Wahrheitsspiele«, wie er sie nannte, der Gesellschaft untersucht. Was ich für gut und richtig
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