Liebe
wählen nicht mehr zwischen Ideologien, sondern zwischen Betriebssystemen. Wir müssen damit leben, wenn uns Moralapostel den Verlust der Werte predigen, der konservativen und der linken. Vielleicht beruhigen wir uns ab und zu damit, dass wir immerhin noch besser sind als unsere Jugend. Wir haben noch Disziplin, zumindest manchmal. Und wir empfinden ein Verantwortungsgefühl für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt, zumindest theoretisch.
Sicher fühlen wir uns bei all dem nicht. Vielleicht sind wir nicht entfremdet, aber oft genug sind wir ratlos. Wir wissen nicht, was wir tun sollen, für andere und für uns selbst. Nicht anders ist das in unseren Liebesbeziehungen: »Was Familie, Ehe, Elternschaft, Sexualität, Erotik, Liebe ist, nein, sein sollte oder sein könnte, kann nicht mehr vorausgesetzt, abgefragt, verbindlich verkündet werden, sondern variiert in Inhalten, Ausgrenzungen, Normen, Moral, Möglichkeiten am Ende eventuell von Individuum zu Individuum, Beziehung zu Beziehung, muss in allen Einzelheiten des Wie, Was, Warum, Warum-Nicht enträtselt, verhandelt, abgesprochen, begründet werden« 104 , schreibt der Soziologe Ulrich Beck.
Selbst wenn es falsch ist, dass wir heute allen Sinn in der Liebe suchen, so ist es auf jeden Fall schwierig, ihn zu finden. Und wäre Individualisierung das Einzige, das uns heute treibt, so wäre dieses Sinnfinden wahrscheinlich ganz unmöglich. Mit kluger
List hat Becks Gegenspieler, der 2007 verstorbene Frankfurter Soziologe Karl-Otto Hondrich, Becks Idee der radikalen Individualisierung entschieden widersprochen. Selbstverständlich, so Hondrich, treibt uns heute die Individualisierung. Zugleich aber suchen wir nach etwas Gegenläufigem, das diese oft verstörende Individualisierung in ihre Schranken weist. Da es dafür noch kein Wort gibt, nennt Hondrich diese Tendenz »Rückbindung«.
Stellen wir uns dazu eine moderne Zweierbeziehung vor. Beide Partner suchen in ihrer Beziehung das Gleiche: Zufriedenheit, Bestätigung, Aufregung und Verständnis. Mit Luhmann gesagt, möchten sie im Glück des anderen ihr Glück finden. Wie alle Paare stammen sie aus unterschiedlichen Elternhäusern und haben bereits eine Vorgeschichte mit unterschiedlichen Beziehungen. Diese Elternhäuser brauchen dabei nicht sehr verschieden zu sein. Und auch ihre Beziehungsgeschichte muss nicht vollkommen anders gewesen sein. Wir brauchen uns nicht vorzustellen, dass der eine im Senegal aufgewachsen ist und die andere in Leipzig. Es mag völlig ausreichen, dass beides Mittelstandskinder sind aus einer durchschnittlichen deutschen Mittelstadt wie Solingen, Bielefeld, Kaiserslautern, Erfurt oder Oberhausen.
Am Anfang ihrer Liebe übertüncht die Verliebtheit alle Differenzen. Aber spätestens nach einem halben Jahr wird der Blick kritischer. Zieht man nun zusammen, so häufen sich die Konflikte. Der Mann wirft seine Wäsche in den Schrank, die Frau faltet sie. Ein kleines Gespräch mit halbherzigen Absichtsbekundungen belehrt unmissverständlich darüber, dass sich daran nichts ändern wird, jedenfalls nicht langfristig. Denn der Unterschied stört nur den Ordentlichen, nicht den Unordentlichen. Für den Ordentlichen handelt es sich um ein gemeinsames, also um ein Beziehungsproblem. Für den Unordentlichen um ein persönliches Problem seines Partners: um Spießigkeit, Zwanghaftigkeit und Intoleranz.
Oberflächlich betrachtet handelt es sich hierbei um eine Falle
der Individualisierung. Jeder möchte das gemeinsame Leben nach seiner individuellen Art ausgerichtet sehen und nicht zurückstecken. Man einigt sich auf einen Kompromiss. Zum Beispiel: Jeder behält seine Manier des Umgangs mit Wäsche, aber jeder bekommt seinen eigenen Wäscheschrank. Für die Befürworter der radikalen Individualisierungstheorie ein Triumph. Jeder zieht »sein Ding durch«. Und die Folge ist Aufspaltung und Konsum.
Ein sorgfältiger Beobachter, wie Karl-Otto Hondrich, sieht darin jedoch das genaue Gegenteil. Die Abmachung, sich über die Wäsche nicht mehr zu streiten, ist keine Einzelentscheidung, sondern ein gemeinsamer Kompromiss. Dieser Kompromiss geschieht im Namen nicht der einzelnen Partner, sondern der Beziehung. Und von nun an muss man sich daran halten. Die Beziehung gewährt dem Paar zwar einerseits eine Individualität, bestimmt aber gleichwohl die Spielregeln. Dem französischen Soziologen Jean-Claude Kaufmann war das Beispiel des Umgangs mit den Anziehsachen übrigens sogar ein ganzes Buch wert: Schmutzige
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