Liebe
Wie zuvor vermutet ist die Rückbindung im Zweifelsfall sogar das gefährlichere Gift für unser traditionelles Ehemodell. Nur in Zeiten, wo nahezu alle Mittelständler aus ähnlichen Elternhäusern stammten, Katholiken nur Katholiken
heirateten und Bauern nur Bäuerinnen, war die Rückbindung ein gemeinsames Band. Heute dagegen ist Rückbindung keineswegs mehr eine Garantie. Vielmehr trägt sie dazu bei, dass man den neuen Wertekosmos des Paares sehr schnell wieder durch den alten der Herkunftsfamilie ersetzt.
Die Zahl der Einpersonenhaushalte in der Bundesrepublik hat in den letzten 30 Jahren stark zugenommen. Die Scheidungsrate explodierte in den 1970er und 1980er Jahren. Seit etwa 1990 wird in Deutschland jede dritte Ehe geschieden, in den Großstädten sogar jede zweite. Und die Vermehrungsfreude der Deutschen lässt dem Staat seit Jahrzehnten viel zu wünschen übrig. Doch liegt die Ursache für all dies tatsächlich in unseren überzogenen Liebeserwartungen? Dem Wunsch, unseren wahren Kern in die Schokolade der Romantik zu tauchen? Der Sinnsuche zwischen Kerzen, Küche, Kondom und Kemenate?
Nach der im 3. Kapitel zitierten Umfrage des SPIEGEL vom April 2008 unterschrieben nur 63 Prozent der Frauen und 69 Prozent der Männer den Satz: »Der Sinn des Lebens liegt vor allem in einer glücklichen und harmonischen Partnerschaft« – also rund zwei Drittel der erwachsenen deutschen Bevölkerung. Etwas mehr entschieden sich etwa für die Aussage, der Sinn läge »darin, gute Freunde zu haben«, nämlich 73 Prozent der Frauen und 66 Prozent der Männer.
Vor diesem Hintergrund verliert die Theorie von der letzten Zuflucht des obdachlosen Individuums in das Traumschloss der Liebe etwas an Glanz. Woran liegt es, dass immerhin ein Drittel der erwachsenen Deutschen diese Sehnsucht nicht zu teilen scheint?
Mehrere Antworten sind denkbar. Mag sein, dass viele Menschen in Deutschland gar nicht mehr daran glauben, Sinn in einer erfüllten Partnerschaft finden zu können. Vielleicht gibt es in der heutigen Zeit für viele auch ein besseres Sinnangebot als die Liebe. Oder das Sinnbedürfnis der Deutschen wird allgemein überschätzt. Eine Antwort darauf könnte in einer anderen Frage
stecken: »Warum sind Sie Single?«, wollte der SPIEGEL wissen. Ein knappes Drittel der befragten Frauen wie Männer meinte, sie seien »zu anspruchsvoll«. Und ebenfalls ein knappes Drittel erklärte ihr Single-Dasein mit ihrem »Unabhängigkeitsdrang«. Weitere Gründe waren »schlechte Erfahrungen« bei Frauen und »Schüchternheit« bei Männern.
Singles, die überhaupt keine Liebe suchen, dürften sehr selten sein. Tatsächlich aber muten sich viele Singles, vor allem in den Großstädten, keine Beziehung mehr zu. Die Angst vor den Abstrichen überwiegt gegenüber dem vermuteten Zugewinn. Diese Anspruchshaltung ist nicht auf die Liebe beschränkt. Seit den 1970er Jahren haben sich die Ansprüche jüngerer Menschen an das Leben stetig erhöht. Wo Wohlstand ist, da ist auch der Anspruch nicht fern, davon zu profitieren, und zwar materiell wie ideell. Geld verschafft nicht nur Waren, es maximiert auch die Lebensmöglichkeiten. Die Kehrseite davon ist die Unzufriedenheit. Je größer meine Auswahl ist, umso mehr fällt dabei durch. Unsere Konsumkultur ist nicht nur eine Kultur des Ja-Sagens, sondern vielmehr des Nein-Sagens. Denn nicht nur das, was ich auswähle, bestimmt meine Individualität, sondern ebenso das, was ich ablehne. Der Kleinbürger der 1950er und 1960er Jahre mokierte sich über die Proletarier und die Ausländer. Der moderne Mittelstandsmensch aber setzt sich bereits bei der Wahl seiner Lieblingssongs in ein abgrenzendes Verhältnis zur Welt. Die Dinge, über die ich mich definiere, veralten dabei in atemberaubendem Tempo. Jede Wahl wartet auf ihre Neuwahl. Und nicht nur »lebenslanges Lernen« lautet die Maxime, sondern auch »lebenslanges Meckern«.
Kein Wunder deshalb, dass die Idee der romantischen Liebe in heutiger Zeit die Ansprüche oft höher wachsen lässt als die Möglichkeiten. Der Hauptgrund zum Meckern liegt dabei in den eigenen Möglichkeiten. Ist der Liebesmarkt in den westlichen Ländern auch der größte, den es je gab, so sind die persönlichen Chancen auf diesem Markt doch nicht unbegrenzt.
Für viele Menschen ist die Auswahl an möglichen Liebespartnern auch heute noch sehr bescheiden. Wer unterdurchschnittlich aussieht, nur über mäßigen Charme verfügt und einen als langweilig geltenden Beruf
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