Liebe
persönliches Universum. Das Ganze seiner Person, seines Lebens und seiner Welt zu erfassen ist dem menschlichen Verstand nicht möglich. Totalitäten können nicht begriffen,
sondern nur als Evidenzen erfahren werden. Zu Deutsch: Das große Ganze muss man fühlen. Aus diesem Grund ist jede Vorstellung von der Liebe auch immer zu klein, ebenso wie jede Vorstellung von Gott oder jede Vorstellung des Todes. In den Worten des deutschen Literaturanthropologen Wolfgang Iser heißt das: »Leben wir, so wissen wir nicht, was das ist, wenn wir leben. Versuchen wir zu wissen, was das ist, wenn wir leben, so sind wir gedrängt, den Sinn dessen zu erfinden, wovon wir kein Wissen haben können. Also ist das ständige Erfinden von Bildern und das gleichzeitige Dementi ihres Erklärungs- oder gar Wahrheitsanspruchs die einzige Position, die das Dilemma zu gewähren scheint.« 108
Was immer wir über die Liebe zu wissen glauben, ist eine Vorstellung, die außerhalb unserer Phantasie keinen realen Ort hat. Und genau das macht sie zu einem scheinbar idealen Erfahrungs- und Selbsterfahrungsraum. Liebe kann nicht widerlegt werden, nur enttäuscht. Man bildet eine Einheit, ohne eine zu sein, und verschmilzt, ohne zu verschmelzen. Und man sieht »Quellen von Möglichkeiten, wo andere nur Fettpolster, Barthaare und (wortreiche) Sprachlosigkeit bemerken«. 109
Das paradise now! der Liebe macht sie tatsächlich zu einer Nachfolgerin der Religion in der Gesellschaft. Doch wo sich die Beziehung zu Gott nach katholischer Auffassung nicht (oder wenn, nur einmal) lösen lässt, stiftet die Liebe heute Verhältnisse, die sich immer wieder einseitig aufkündigen lassen. Wenn der erträumte Himmel zur Hölle wird, dürfen wir das Band heute lösen.
Die Gemeinsamkeit zwischen Religion und Liebe endet hier. Mag die Liebe auch Trost spenden, Akzeptanz verleihen, Hoffnungen nähren und Sinn stiften – sie bleibt stets auf die beiden liebenden Individuen beschränkt. Religionen dagegen stiften einen sozialen Sinn, ein Verhaltensrepertoire für viele, eine Moral des Umgangs miteinander in der Gesellschaft. Die geschlechtliche Liebe als Ersatzreligion aber ist hoffnungslos asozial und
exklusiv. Sie schließt bestenfalls ein paar Kinder mit ein. In diesem Bunde ist (meistens) keiner der dritte: »Wir gegen den Rest der Welt!« Der Atombunker in einer unwirtlichen Welt hat nur Platz für zwei: Hauptsache, wir haben uns – und vielleicht noch Mon Chérie...
12. KAPITEL
Liebe kaufen
Romantik als Konsum
Ich möchte daran erinnern, dass unzählige sogenannte utopische Träume sich erfüllt haben, dass aber diese Träume, indem sie sich erfüllt haben, alle so wirken, wie wenn dabei das Beste vergessen worden wäre.
Theodor W. Adorno
Ist Sex schmutzig? Ja, wenn er richtig gemacht wird.
Woody Allen
Anders als die anderen
»Die Frau, die sagte, sie wäre wie alle anderen – die ist anders!« Dieser Satz, den Oscar Wilde Ende des 19. Jahrhunderts an die Tür zur Moderne geschrieben hat, gilt natürlich auch für Männer. Was das 20. Jahrhundert von früheren Zeiten unterscheidet, ist der Satz: »Wer will schon sein wie alle anderen?«
Der irische Schriftsteller und Vordenker der modernen Selbstökonomie lebte noch vor dem Zeitalter der Werbung. Aber er erkannte in den englischen Salons der Viktorianischen Zeit jenen mystischen Funken, der das Selbstbild erst des Bürgertums und heute nahezu aller Gesellschaftsschichten in der westlichen Welt (und inzwischen nicht nur dort) bestimmt: die Unterscheidung
von den anderen. Individuell verschieden zu sein, erscheint uns heute so selbstverständlich, dass uns gar nicht mehr auffällt, wie neu dieses Wort ist und wie neuartig sein Gebrauch. Noch im Jahr 1930 sah der spanische Philosoph Jose Ortega y Gasset in seinem Buch Der Aufstand der Massen den Menschen auf dem Weg zum gleichgeschalteten Herdentier: wenig individuelle Elite, viel graue Masse. Der intellektuelle Snobismus, der damals dahinterstand, ist heute eines Besseren belehrt. Niemand will mehr zur Masse gehören, keiner ist mehr Durchschnittsmensch. Durch nahezu alle Schichten der Bevölkerung geht ein Aufstand gegen die Masse. Und was in Ortega y Gassets Zeit galt, gilt heute erst recht: die Masse sind immer die anderen.
Den ordinären Massenmenschen, »der die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall durchzusetzen« 110 , gibt es heute nicht mehr. Unserem Selbstverständnis nach sind
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