Liebe
glänzender Stilist.
Das Buch der Becks ist eine apokalyptische Lektüre: Die Menschen suchen die Liebe, aber sie sind ihr nicht mehr gewachsen. Ally McBeal unter den Soziologen, das heißt: »Liebe wird nötig wie nie zuvor und unmöglich gleichermaßen. Die Köstlichkeit, die Symbolkraft, das Verführerische, Erlösende der Liebe wächst mit ihrer Unmöglichkeit. Dieses seltsame Gesetz verbirgt sich hinter Scheidungs- und Wiederverheiratungsziffern, hinter dem Größenwahn, mit dem die Menschen im Du ihr Ich suchen, zu befreien suchen. In dem Erlösungshunger, mit dem sie übereinander
herfallen.« 106 Der gegenwärtige Mensch ist ein Jäger und Sammler auf der Suche nach Sex und Liebe, Rausch und Befriedigung. All dies dringt heute nach, »füllt aus, wo dem Bauplan vergangener Welten nach Gott, Nation, Klasse, Politik, Familie ihr Regiment entfalten sollten. Ich und noch mal Ich und als Erfüllungsgehilfe Du. Und wenn nicht Du, dann Du.« 107
Aber ist diese Suche vielleicht gar nicht so sehr auf einen anderen Menschen bezogen? Suchen wir gar keinen Partner, der zu uns passen soll, weil wir das Absolute am Ende weder finden können noch wollen? In diesem Fall wäre die Liebe heute weitgehend zu einem Selbstzweck geworden. Denn jeder Liebende in unserer Gesellschaft weiß um ein gewisses Maß an Enttäuschung, die von vornherein mit eingebaut ist: Wenn die Liebenden im Film sich endlich gekriegt haben, wird es langweilig. Es geht nicht mehr aufwärts, sondern bergab.
In diesem Sinn spricht Ulrich Beck von Liebe als Religion. Genauer als »Religion nach der Religion«, dem »Fundamentalismus nach der Überwindung desselben« und von einem »Kultplatz der um Selbstentfaltung kreisenden Gesellschaft«. Wir lieben, verehren und ersehnen das Lieben. Unsere spirituelle und körperliche Sehnsucht gilt diesem wichtigsten aller Zustände. Unausgesetzt heizen die Verheißungsmetaphern der Schlagerund Werbewelt unsere Phantasie an, schüren unseren Erlösungshunger in der Umarmung mit dem anderen und der Verschmelzung im Bett.
Hatte Beck recht, und hat er auch 20 Jahre später recht behalten? Müssen wir Ally McBeal begreifen als eine Gottsucherin in einer gottlosen Welt? Als heilige Therese der Schuhgeschäfte? Dass die Liebe heute Funktionen übernimmt, die ehemals der Religion zukamen, ist wohl unbestritten. Auch in der Religion soll der Mensch sich als ein Ganzes erfahren können. Und der christliche Gott akzeptiert jeden Einzelnen, wie er ist, sofern er nur an ihn glaubt. Das innige Band verleiht dem Menschen Halt. Und der Platz, an den sich der Mensch in der Welt gestellt
sah, war ihm von Gott zugewiesen, so wie heute die Liebe den Hafen baut, damit das Schiff, das sich Gemeinsamkeit nennt, vor Anker gehen kann. Hat die Religion in der westlichen Welt also auch oder sogar vor allem deshalb an Bedeutung verloren, weil die Menschen in der Liebe eine neue gefunden haben? Oder kompensiert die Liebe als maßlos überfrachteter Lückenbüßer das Loch, das der Niedergang der Frömmigkeit bei uns gerissen hat?
Zunächst einmal scheint die Verschmelzung von Liebes- und Religionsphantasie gar nicht so abwegig zu sein. Denn vermutlich liegen die Bedürfnisse entwicklungsgeschichtlich sehr nahe beieinander. Für die Biologie des Menschen ist das eine so überflüssig wie das andere: die geschlechtliche Liebe und der religiöse Glaube. Dass es die Sehnsucht danach trotzdem gibt, erscheint in beiden Fällen als ein Nebenprodukt unserer Sensibilität. Beide versuchen sie die große Leere zu füllen, die die Frage nach dem Sinn aufgerissen hat, sobald Menschen das erste Mal in der Lage waren, sie zu stellen. Religiosität und geschlechtliche Liebe sind Spandrels unserer emotionalen und sozialen Intelligenz. Und erstaunlicher als ihre moderne Verschmelzung ist der Umstand, dass sie in der Menschheitsgeschichte so oft getrennt wurden. Denn Glaube in der Tradition der monotheistischen Religionen war ja immer beides: Liebe und Hass, Verbrüderung und Ausgrenzung, Weihrauch und Feuer, Palmenzweig und Schwert. Beruhigend dabei ist, dass im gleichen Maße, wie die christliche Religion in der westlichen Zivilisation ihren Wahrheitsanspruch eingebüßt hat, sie heute friedlicher geworden ist. Was an ihr erhaltenswert erscheint, ist ihre karitative Sozialmoral und ihr Gebot der Nächstenliebe.
Liebe und Religion treffen sich in ihrem Anspruch auf Totalität. Beide Male geht es um das große Ganze: den ganzen Menschen und sein
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