Liebe
Die Kurve muss nicht weiter steigen. Und das erwartbare Ende liegt nicht notwendig in einer kollektiven Bindungsunlust und Unfähigkeit zur Paarbeziehung. Aktuellen Studien zufolge ist das Eintrittsalter in die sexuelle Aktivität bei Jugendlichen in Deutschland seit 30 Jahren konstant; es sinkt nur in sozialen Brennpunkten. Und auch die Anzahl der Sexualpartner bei Jugendlichen ist im Durchschnitt seit den 1970er Jahren nicht gestiegen. Auch wenn die Sexualität kein sicherer Anhaltspunkt ist, so ist gleichwohl nicht zwingend zu erwarten, dass unsere Jugend bindungsunfähiger ist, als wir selbst es sind.
An der hohen Anspruchshaltung, so scheint es, führt freiwillig kein Weg mehr vorbei. Die Forderungen und Wünsche, die wir an unsere Liebespartner stellen, lassen sich nur schwer beschränken. Und natürlich wissen wir längst, dass auch der andere hohe Forderungen an uns hat – mit all den Minderwertigkeitskomplexen, die dies auslöst. Dass gerade die jüngere Generation immense Ansprüche an ihre Liebesgefährten stellt, dürfte allerdings nicht nur den Wahlmöglichkeiten des Liebesmarktes geschuldet sein. Die Aufmerksamkeit, die wir unseren immer weniger zahlreichen Kindern zukommen lassen, setzt einen hohen Standard auch für die spätere Partnersuche. Je mehr man sich als Kind für mich interessiert, umso mehr werde ich vermutlich wollen, dass auch ein Liebespartner auf mich eingeht. Meine »Liebeskarte«
verzeichnet ja nicht nur Merkmale, sondern vor allem auch Verhaltensmuster. Sie setzen den Maßstab für meine späteren Bewertungen. Die kapitalistische Suche nach dem optimalen Liebesertrag für mich findet ihre Entsprechung zwar nicht in den Genen, wohl aber in der Entwicklungspsychologie.
Ohne Zweifel hat das Muster unserer Liebessuche eine paradoxe Struktur. Wir suchen nach dem höchstmöglichen Gefühl für uns selbst durch einen anderen. Unser Egoismus schlüpft in die altruistische Hülle eines »Paares«. Wir geben uns selbst auf, um mehr zu werden. Unsere Individualität und unsere Sehnsucht nach Verbundenheit kreuzen sich in einem bizarren Drahtseilakt. Und die Rückbindung bildet das Sicherheitsnetz. Wenn Beziehungen scheitern, entdecken wir unsere Herkunftsfamilie und unsere Freunde neu.
Alles das bestreitet nicht: Es gibt durchaus eine »echte« Sorge für den anderen und ebenso »echtes« Mitgefühl. Wer wollte ein Gefühl falsch nennen, nur weil ein höheres Interesse es, wie indirekt auch immer, motiviert? Wer im Glück des anderen sein Glück findet, der findet auch seine Sorgen in denen des anderen. Für einen anderen Menschen »dazusein«, ist ein ursprüngliches Bedürfnis des Menschen mit sehr alten Wurzeln. Nach Ansicht des US-amerikanischen Einsamkeitsforschers Robert Weiss von der University of Massachusetts in Boston ist der Mangel an Mitgefühl, über den man selbst verfügt, noch schlimmer, als keines zu bekommen. Und wer nicht geben kann, der kann auch nicht lieben – diese Erkenntnis ist nicht neu. Wir wollen nicht nur etwas haben in unserer Liebe, sondern auch etwas verschenken – unsere »Seele«?
Liebes-Religion
»Viele reden von Liebe und Familie wie frühere Jahrhunderte von Gott. Die Sehnsucht nach Erlösung und Zärtlichkeit, das Hickhack darum, die unwirkliche Schlagertextwirklichkeit in den versteckten Kammern des Begehrens – alles das hat einen Hauch von alltäglicher Religiosität, von Hoffnung auf Jenseits im Diesseits.« 105 Fast zwanzig Jahre sind vergangen, seit der Soziologe Ulrich Beck und seine Frau Elisabeth in ihrer Streitschrift Das ganz normale Chaos der Liebe (1990) ein Feuerwerk an Ideen, Spekulationen und Einsichten zur modernen Liebe abbrannten. Seit drei Jahrzehnten bereichert vor allem Ulrich Beck die deutsche Soziologie um kalkulierte Provokationen. Als Professor an der Universität München und der London School of Economics and Political Science ist er Vordenker und enfant terrible in einer Person. Politisch wechselte er innerhalb des linken Spektrums wiederholt die Positionen, war radikaler und kompromissloser als alle anderen, um sich kurz darauf als besonnener Mahner zu zeigen, kompromissmutig und zögerlich. Die These von der radikalen Individualisierung hat in Beck nicht nur ihren prominentesten Anwalt, sie erscheint gleichsam als persönliches Lebensprogramm. Wo auch immer ein deutscher Soziologe gegenwärtig hindenkt – Beck war schon da. Seine Rolle ist die eines modernen Pfadfinders für Sinndefizite. Und ohne Frage ist er ein
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