Liebe
wir alle individuell. Diese Individualität ist keine Erfindung von Philosophen, sondern der Werbung, und sie ist keine 50 Jahre alt. Reich und schön sein wollen die Menschen schon lange, aber individuell erst seit wenigen Jahrzehnten. Ein individuelles Leben? – Noch mein Großvater hatte davon nie gehört.
Individualität ist ein Zauberwort. Von der Kaffeetasse mit Namensaufdruck bis zum »individuellen« Internetzugang – ohne das Wort wagt kaum noch jemand, anderen etwas zu verkaufen. Individuell zu sein, gehört zur modernen Vermarktung wie das »sehr geehrt« in die Briefanrede. Individuell ist das Mindeste, was wir sein wollen und wie wir gesehen werden möchten. Und der Wunsch, anders als die anderen sein zu wollen, macht uns alle gleich.
Der Anspruch auf Individualisierung ist damit zugleich ihr größter Feind. In der Mode und in den zahlreichen Trends wollen wir uns unterscheiden und normieren uns doch gleichzeitig dabei. Und was ich für meine Eigenheiten, meinen Geschmack und meinen Stil halte, sind tausendfach oder millionenfach hergestellte
Vorgaben. Mein Schweißgeruch mag mich von allen anderen unterscheiden, das »individuell« zu mir passende Parfüm nicht. Und so individuell, wie ich nackt aussehe, macht mich keine Kleidung.
Der Anspruch auf Individualität ist also weit mehr Schein als Sein. Was für manchen »Individualisten« eine Crux ist, juckt die meisten Käufer individueller Produkte nur wenig. Für sie macht bereits die Tatsache, dass sie glauben, die Produkte frei und selbständig ausgesucht zu haben, die Dinge zu individuellen Dingen. Was mir gehört, wird schon dadurch unverwechselbar, dass es mir gehört und nicht einem anderen. Und tatsächlich völlig anders als die anderen möchten die meisten Menschen ohnehin nicht sein. Wer fällt schon gerne völlig aus seiner Umwelt, seiner Peer-Group oder seiner Clique? So frei, dass wir nicht in einer mehr oder weniger selbst gewählten Gruppe geborgen sind, wollen wir gar nicht sein. Die Akzeptanz, die wir hier erfahren, ist für unsere Identität zumeist unverzichtbar. Ein jugendlicher Briefmarkensammler oder Zierfischzüchter ist heute nonkonformer als ein Rapper. Ein Jugendlicher, der sich heute einer festgelegten Stilrichtung verweigert zugunsten eines unberechenbaren Stilmix, verhält sich konventionell. Und ein Erwachsener, der völlig anders ist als alle akzeptierten Muster eines Bankers, Zahnarztes, Busfahrers, Pfarrers, Straßenarbeiters oder Rockstars, gilt gemeinhin als bekloppt.
Die Abgrenzung von den anderen, und sei sie auch nur ein Schein, führt zu jenem »lebenslangen Meckern«, mit dem wir meinen »individuell« zu sein. Unsere Mentalität und unser Wirtschaftssystem spielen dabei so fein zusammen, dass es schwer ist, das eine vom anderen noch zu trennen. Wir wollen die höchsten Erträge für unsere Individualität bei möglichst geringen Kosten. Und die Wirtschaft feuert uns dabei unausgesetzt an. Wenn Geiz wirklich geil wäre, würden wir auf den angepriesenen Fernseher oder Computer verzichten. Die Illusion allerdings, durch Kaufen zu sparen, heizt uns ein: Wir erträumen uns ein märchenhaftes
Paradox und individualisieren uns mit dem Klingelton unseres Handys.
Der US-amerikanische Soziologe Albert Hirschman brachte es auf den Punkt, als er das Staatsziel in der Verfassung der USA umkehrte: Aus dem Streben nach Glück ( pursuit of happiness) wird heute das Glück, nach etwas zu streben ( happiness of pursuit). Wir verlangen nicht nach Befriedigung, sondern wir befriedigen uns durch Verlangen. Jean-Paul Sartre, der vor 70 Jahren das Credo formulierte, der Mensch solle sich fortwährend neu erfinden, ahnte noch nicht entfernt, welcher gewaltige Konsum mit dieser Forderung dereinst einhergehen würde. Wichtiger, als sein Glück – womöglich noch dauerhaft – zu finden, ist die fortwährende Suche. Die stetig neu entfachte Unzufriedenheit gehört zum modernen Kapitalismus untrennbar hinzu. Satte Bürger sind schlechte Konsumenten. Und am ewigen Reiz und Neuanreiz des Begehrens führt kein Wirtschaftsweg mehr vorbei. Nicht Zufriedenheit oder Glück garantieren heute ein funktionierendes Wirtschaftssystem und ein dadurch finanziertes soziales Miteinander, sondern Unzufriedenheit und Unruhe.
Identitäten entstehen durch Kopieren. Diese Weisheit ist keine Erfahrung der schönen neuen Warenwelt. Das war schon immer so. Kinder eifern Bildern dessen nach, wie sie sein wollen, Erwachsene machen es nicht anders. Jeder
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