Liebe
Erwartungsdruck. Je mehr wir uns – auch bei der Einnahme von Lustmitteln – unter Druck setzen, umso geringer bekanntlich die Erfolgsaussichten. Der sexuelle Rausch auf Knopfdruck funktioniert bislang nicht, und der Weg dorthin ist schwierig. Kein Lustmittel hält dauerhaft, was die Wünsche erhoffen. Und das naturwissenschaftliche Menschenbild, das den Menschen so gerne auf seine Chemie reduziert, stößt bei unserer Psyche an seine Grenzen. Luststimulationen wirken zwar auf unsere Physiologie und damit auf unsere Emotionen, aber noch immer erfinden wir uns die dazu passenden Gefühle. Auch ein Mittel wie MsH schlägt nur dann an, wenn wir unser Gegenüber schon vorher mögen und begehren. Wen wir langweilig, fad oder gar abstoßend finden – Gefühle, zu denen es keine exakte physiologische Entsprechung im Gehirn gibt -, den macht auch die Chemie nicht flott.
Wer auf seinen Dopamin- und Serotoninhaushalt einwirkt, der beeinflusst zudem nicht nur Erregungs- und Glückszustände, sondern schafft bekanntermaßen auch Abhängigkeiten. Mit anderen Worten: Je effektiver das Lustmittel, umso größer ist die Suchtgefahr. Auch Alkohol und Zigaretten manipulieren unsere Hormone. Und was wäre der Nebelrausch und das kleine Zwischenhoch schon gegen die permanente High-Tech-Lust aus dem Labor? Licht aus, Lust an! wäre das Motto der Zukunft, Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen, sondern mit einkalkuliert. Das Gehirn gewährt uns keine Lust, für die es nicht einen chemischen Ausgleich braucht: Kopfschmerzen nach dem Vollrausch, Müdigkeit nach Koffein und Kokain und Erschlaffung nach dauerhafter Lust. Je höher wir die Lustspirale schrauben, umso upgefuckter werden wir – und ohne Pillen läuft irgendwann gar nichts mehr.
Ersprießlich ist diese Vorstellung nicht. Der Traum von der Lust gebiert Ungeheuerlichkeiten. Wer die Augen aufmacht und aus diesem Traum erwacht, sieht viel schwer Erträgliches. Bleibt
nur zu hoffen, dass man nicht alles bekommt, was man sich wünscht.
Höhlenausgänge
Kultur dient dem Leben, Technik dem Überleben. Seit unsere Vorfahren die ersten primitiven Faustkeile benutzten, galt diese Unterscheidung. Feuermachen, Waffen und Werkzeuge erleichterten den Menschen das Überleben, die sozialen Regeln, die Sprache, die Rituale und Bilder stärkten den Zusammenhalt. Einmal in Gang gesetzt freilich schraubte sich die Technik so weit hoch, dass sie heute sehr weitgehend nicht mehr Überlebenstechnik ist, sondern Spielerei. Autos, Flugzeuge, Fotoapparate, Telefone und Computer sind keine Überlebensmaschinen. Ihre Auswirkungen auf die Umgangsformen des Menschen freilich sind gewaltig – sie revolutionierten unsere Kultur. Was sie dagegen wenig änderten, sind die Inhalte. Die Weisheiten, die sich die allermeisten Menschen mithilfe von SMS und MSN mitteilen, sind der Steinzeit bis heute verpflichtet geblieben. Wir benutzen die atemberaubendsten und futuristischsten Techniken der drahtlosen Kommunikation, um uns mit Hochleistungsmaschinen das steinzeitliche Piktogramm eines lachenden Gesichts zu schicken – einen Smiley.
Wenn Inhalte gleich oder ähnlich bleiben, die Technik dagegen sich völlig verändert hat, so hat dies Folgen für das Bewusstsein. Die Formen der technischen oder medialen Präsentation schneiden jetzt die Inhalte zu und geben ihnen neue Gesichter. Aus Bildschirmoberflächen werden Leitbilder der Ästhetik – einer körperlosen künstlichen Schönheit. Glatte Oberflächen treten an die Stelle von echten Körpern; Falten, Schweiß und Körperbehaarung sind verschwunden. In den Worten des 2001 verstorbenen deutschen Kulturphilosophen Dietmar Kamper haben
wir es in der Realität mit zunehmend »bildlosen Körpern«, im Fernsehen und Internet dagegen mit »körperlosen Bildern« zu tun. 113
Die mediale künstliche Schönheit ist heute das sterile Leitbild. Von der Intimrasur bis zur Schönheitschirurgie streben Menschen nach dem unmenschlichen Ideal. Gerüche, Säfte, Haare – was das Menschsein Millionen Jahre lang bestimmte und zierte, ist heute lästiger Abfall und permanente Störung. War die Geschichte der bürgerlichen Kultur der letzten 200 Jahre eine Geschichte der sprachlichen und sittlichen Unterdrückung des Körpers, so spielen wir heute mit der Vorstellung, das endlich befreite Körperliche schnellstmöglich loszuwerden. Aus dem Dunkel des Tabus erwacht, finden wir unsere Körper nicht mehr schön. Und je mehr künstliche Schönheit wir in Illustrierten und auf
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