Liebe
Jüngeren, die diese Räume nützen. Doch wirklich lebensentscheidend werden sie künftig vermutlich eher für die Älteren. Für sie ist die Partnersuche gemeinhin ja viel schwieriger als für die Jugend. Wie Schuldt bemerkt, profitieren vor allem Special-Interest-Klienten und Menschen mit einem Manko auf wundersame Weise von der Anbahnung im Internet. Alleinerziehende Mütter und Väter ebenso wie Gehörlose, Suchtkranke und HIV-Positive – für jede Gruppe gibt es mehr als ein eigenes Portal, in dem sich Gleich und Gleich gerne begegnen.
Kritiker des Netzflirtens werfen den amourösen Anbandelungen im Internet gerne einen Mangel an Romantik vor. Statt Spiel und Passion herrsche nüchternes Effizienzdenken. Träfe dieser
Vorwurf zu, so verhielten sich die Partnersucher im Internet wie die Gene in Richard Dawkins’ kapitalistischer Evolutionstheorie: Sie wären immer auf der Suche nach dem schnellen ökonomisch optimalen Ertrag für ihre Investition. Für Schuldt dagegen vollzieht sich im Internet genau das Gegenteil: die Wiedergeburt der klassischen Romantik: »Gerade das hypermoderne Internet scheint in einer romantischen Tradition zu stehen. Die Anonymität in E-Mails und Chats bewirkt, dass man sich andere tendenziell schöner und schlauer vorstellt, als sie tatsächlich sind, und dass man sich auch selbst so präsentiert, wie man gerne gesehen werden will. Das heißt: Verklärung ist angesagt. Die Verliebtheit in einen unsichtbaren Fremden kann größer sein als der Flirtpartner aus Fleisch und Blut. Diese Idealisierung ist einerseits ein Risiko, weil sie zu übersteigerten Erwartungen verleitet. Doch sie ist auch grundromantisch und bedeutet damit geradezu eine Rückkehr zu traditionellen Liebesmustern. Im Netz steht die körperliche Vereinigung nicht am Anfang, sondern am Ende des Kennenlernens. Bilden sich heutige Beziehungen zunehmend aus Bettgeschichten, steht das Liebesspiel im Internet notgedrungen nicht an erster Stelle. So gesehen kann man fast schon von einer Rückkehr zu einem platonischen Liebesideal sprechen.« 116
Sollte tatsächlich zutreffen, dass, wie Galimberti meint, die Moderne den Menschen isoliert oder nach Ulrich Beck zu einem »Massen-Eremiten« vereinsamt, so führt das Internet ihn doch gleichzeitig aus dieser Isolation heraus. Viele Soziologen dagegen sehen nur das Risiko, nicht die Chance: Die Kontaktscheuen graben sich weiter ein, die sozial Untrainierten verzichten auf ihre notwendige Schulung. Im Ganzen gesehen aber weist das Netz dem modernen Massen-Eremiten zugleich den Weg aus der Höhle. In einer Kultur, die in den letzten Jahrzehnten verlernt hat zu schreiben, offenbaren die Flirträume des World Wide Net neue Schreibräume. Was dem Romantiker der Brief, ist dem User das Flirtportal. Und der moderne Minnesang gleicht dem mittelalterlichen
auf erstaunliche Weise: in seinem strengen Code von schicklich und unschicklich, in seinem Zwang zu Witz und Originalität und in der direkten oder indirekten Konkurrenzsituation zu anderen Mitflirtern. Die modernen Sängerkriege finden nicht mehr auf der Wartburg statt, sondern im Portal: My net is my castle.
Was aber ist dabei aus dem alten home geworden, dem klassischen Nest, der bürgerlichen Zelle, dem idealen Hort – aus der Familie?
13. KAPITEL
Die liebe Familie
Was davon bleibt und was sich ändert
»Familie – das ist das, wo unsere Nation Hoffnung findet, wo Flügel Träume bekommen.«
George W. Bush
Günstiger tanken, Geld für Kondome haben.
Werbung des Tankstellen-Betreibers JET (2002)
Die Familie als Wille und Vorstellung
Der Werberat und der katholische Familienbund waren sich einig: So viel Unverfrorenheit war nie. Kampfbereit riefen sie zum sofortigen Boykott auf. Ziel des moralischen Embargos war der Tankstellenbetreiber JET. Der Tochterkonzern des US-amerikanischen Mineralölmultis ConocoPhillips hatte eine heilige Kuh geschlachtet. Auf seinem Werbeplakat lächelt eine achtköpfige Familie im Sekten-Look: Schlips und Kragen, Seitenscheitel, debiles Lächeln. Darunter der Spruch: »Günstiger tanken, Geld für Kondome haben.« Und ganz klein: »Jet – den Rest können Sie sich sparen«. »Pervers«, wetterte die bayerische Familienministerin, eine »brutale Botschaft« befand der Präsident der Landeskirche Hessen-Nassau. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) hob den Zeigefinger: »Verstoß gegen
die Menschenwürde!« So geschehen im Jahr 2002. Das Plakat verschwand nach
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