Liebe
Bildschirmen sehen, umso hässlicher finden wir unsere eigene natürliche Körperlichkeit. Das »perfekte >Bild von einer Frau<«, folgerte Kamper »ist eine Leiche«.
Entfremdet uns die Technik von uns selbst? Macht sie uns zu Aliens in unseren eigenen Körpern? Und zerstört sie am Ende auch alle »echte« Liebe?
Technikfeindlichkeit ist eine unter Philosophen sehr beliebte Sportart. Das »Eigentliche« der Kultur spielt dann gegen die »uneigentliche« Technik. Für Umberto Galimberti etwa ist die Technik der größtmögliche Feind des Individuums und die Liebe deshalb die »einzig mögliche Antwort auf die in der Gesellschaft herrschende Anonymität und auf jene radikalste Einsamkeit, die die Auflösung aller Bindungen im Zeitalter der Technik mit sich bringt«. 114
Stimmt das wirklich? Wie wenig Kontakt muss man mit Menschen haben, die im Internet chatten und flirten, um von »radikalster Einsamkeit« zu sprechen? Und immerhin acht Prozent aller Paarbeziehungen in Deutschland wurden laut einer Emnid-Studie von 2003 durch das Internet angebahnt. Vielleicht werden Ehen heute noch immer auf Autositzen geschieden, wie
Luhmann vermutete; aber sie werden nicht nur im Himmel gestiftet, sondern auch im Internet. Nach der »Auflösung aller Bindungen« sieht das nicht aus.
Das Internet ist mitnichten ein Ort massenhafter Vereinsamung. Stattdessen ermöglicht es eine unglaubliche Zahl neuer, meist flüchtiger, aber in ihrer Flüchtigkeit akzeptierter Bindungen. Nur sehr wenige menschliche Kontakte im realen Leben zielen auf Intensität und Dauer; warum sollte das im Internet anders sein? Was beim kühlen Austausch von Interessen gilt, gilt auch beim heißen Flirten: Die Langfristigkeit der Bindung ist eher in der Utopie erwünscht als in der Realität. Und die romantische Liebe erscheint als eine Kommunikationsform unter anderen. Sie verliert ihr Unendlichkeitspathos: Unendlich sollen nur noch die Gefühle sein, nicht aber mehr ihre Dauer. Gerade der heutigen Jugend ist beides eingezeichnet: die Sehnsucht und das Wissen um die Vergänglichkeit.
In seinem Buch über den Code des Herzens hat Christian Schuldt die Liebe im Zeitalter des Internets klug analysiert und gedeutet: ihre neuen Wahrheitsspiele und ihr Gespinst aus Erwartungen und Erwartungserwartungen. Für ihn »liefert das Internet optimale Voraussetzungen, um Individualität auszudrücken. Die virtuellen Welten verheißen unbegrenzte Möglichkeiten, und im Schutze der Anonymität kann man so frei agieren, wie es in der >Wirklichkeit< niemals möglich wäre.« 115
Die Bedeutung des Internets fürs Flirten, für den sexuellen Kick und für die Anbahnung kurz- und langfristiger Paarbeziehungen ist in den letzten Jahren rasant gestiegen. Ein Beleg dafür ist der Digital Life Report 2006, durchgeführt von TNS Infratest bei deutschen Internetnutzern im Alter ab 14 Jahren. Von allen Befragten, die im Jahr 2005 eine neue Beziehung eingegangen waren, hatte mehr als ein Drittel das Internet bemüht! Nach einer ebenso umfangreichen Studie des Internetportals KissNo-Frog vom Oktober 2008 verbringen Singles in der Altersgruppe von 20-35 Jahren durchschnittlich dreieinhalb Stunden in der
Woche mit der Partnersuche im Internet. Interessant wird diese Zahl, wenn man sie mit der Zeit der Partnersuche im wirklichen Leben vergleicht – hier ist es gerade einmal eine Stunde pro Woche. So etwa geht man alle vier Wochen Samstagabend vier Stunden aus, um jemanden kennenzulernen. Speeddating- Anbieter setzen dagegen auf die größtmögliche Effizienz. Wo früher nur (geschönte) Bilder und Texte ausgetauscht wurden, kommen heute Webcams und Voicechats zum Einsatz: Man kann den anderen »real« sehen und hören. Fehlinvestitionen von Zeit und Energie bei einem Gegenüber, der vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist, sollen damit vermieden werden.
Die Möglichkeiten, sich selbst zu testen und auf andere Menschen zuzugehen, steigen auf den Spielwiesen des Internets rapide an. Was sich in realen Situationen häufig nur verklemmt und verkrampft entwickelt, geht hier spielerisch und leicht über die virtuelle Bühne. Die Suche nach einem Flirt- oder Lebenspartner überwindet nicht nur reale Räume und weitet sich über das unmittelbare Lebens- und Berufsumfeld aus. Sie überwindet auch Skrupel und Selbstzweifel. Das Internet wird somit zu einem einzigartigen zweiten »Lebensraum« und auch zum »Liebesraum« mit ganz eigenen Qualitäten. Zwar sind es bislang überwiegend die
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