Liebe
Sexualität heute alltäglich, banal und akzeptiert. An die Stelle der Lust tritt die Lust auf Sex-Appeal. Wenn ich Aufmerksamkeit und Bestätigung auch ganz ohne echtes körperliches Risiko erfahren kann, so wird die Verpackung zum eigentlichen Inhalt. Als Beleg gilt Sigusch die Love Parade: Nicht Sex wird
gesucht, sondern Selbstdarstellung. Aus Sex als Zweck wird Sex als Mittel.
Die Kennzeichen heutiger Sexualität sind demnach »Dissoziation«, »Dispersion« und »Diversifikation«. Fortpflanzung, Trieb, Lust, Intimität – was früher zusammengehörte, löst sich auf, verteilt und verflüchtigt sich. Fürs Kinder kriegen reicht das Reagenzglas, die Wollust weicht der »Wohllust« begehrt zu werden, und kein Sexualpartner hält, was Pornografie und Werbung versprechen. Die leidenschaftslose Sexindustrie hat uns neu geschaffen, aber auch geschafft. Aus- und Schlussverkauf, so weit der Blick fällt. Foucaults Sensationen sind langweilig geworden: ein netter Fetischismus, freundliche Homosexualität, sanft-alberne Sadomaso-Spiele – Neogeschlechter in ihrer akzeptierten Kulturnische. Dass Freiheit zur Verantwortungslosigkeit führen kann ist nicht neu. Entspannung birgt die Gefahr der Banalisierung. Und aus Liberalität wird Gleichgültigkeit. All dies erklärt heute die sexuelle Lage der Nation: oversexed und upgefuckt.
Nach einer US-amerikanischen Studie aus den 1990er Jahren gab ein Drittel der befragten Frauen zu Papier, sich aus Sex nicht viel zu machen; bei den Männern war es jeder sechste. Orgasmusstörungen und Impotenz sind eine augenfällige Zeitkrankheit. Nach einer Studie der Universität Köln haben vier bis fünf Millionen deutsche Männer Probleme mit der Erektion. Der Grund dafür ist umstritten: psychisch oder physisch?
Weil Sexualität öffentlich bedeutungsvoller, privat dagegen bedeutungsloser geworden ist, sucht die Industrie nach frischen Kicks. Nicht nur der Pornomarkt giert nach immer neuen alten Anreizen und Superlativen. In den Chemielaboren der Welt fahnden Wissenschaftler nach Potenzpillen und Lustsprays. Je mehr wir über das Gehirn und unsere Körperchemie wissen, umso effektiver können wir sie manipulieren. Sollten wir im realen Leben an Lust verlieren, so putschen uns Potenz- und Stimulationsmittel in Zukunft wieder auf. Die technisch reproduzierbare Lust ist ein Milliardenmarkt, und Viagra ist erst der Anfang.
Die erogenste Zone des Menschen – sein Gehirn – ist das tausendfache Ziel. Schon jetzt gibt es eine Menge aufschlussreicher Entdeckungen. Alpha-MsH (Melanozyten stimulierendes Hormon) heißt der Zauberstoff, der nicht nur den Appetit zügelt, sondern auch Oxytocin und Dopamin freisetzt. Die Folgen sind in der Tat beeindruckend. Männern beschert MsH spontane Erektionen. Und auch Frauen lässt es nicht kalt. Als Nasenspray könnte der Botenstoff der große Renner werden, sofern das Mittel tatsächlich zugelassen wird.
Oxytocin, Vasopressin und Phenylethylamin, die Botenstoffe mit Bindungs- und Erregungswirkung, sind ebenso gut bekannt wie die allgemeinen Hirn-Dienstleister: Dopamin für das Aufputschen und Serotonin für die Zufriedenheit. Gerade die beiden letzten lassen sich heute ohne größere Schwierigkeiten künstlich stimulieren – aber nicht ohne Risiko. Denn wer seinen Haushalt an Dopamin und Serotonin manipuliert, der greift tief in den Regelkreis seiner Hormone ein. Weder das eine noch das andere sind Sexualhormone, sondern lediglich Einheiz- und Abkühlaggregate. Wer Lust wecken und Erregungen steigern will, beeinflusst damit unwillkürlich auch seine anderen Emotionen und wirkt sogar auf das Gedächtnis ein.
Die Nebenfolgen sind unüberschaubar. Das in Deutschland noch nicht zugelassene Lustmittel VML 670 war eigentlich ein Mittel gegen Depressionen. Seine besondere Zauberkraft liegt darin, dass es sowohl die Stimmung hebt wie auch die Lust fördert – eine seltene Kombination. Normalerweise nämlich fällt beides nicht zusammen. Antidepressiva heben den Spiegel des »Zufriedenheitshormons« Serotonin. Mit der Folge freilich, dass die sexuelle Lust gleichzeitig abnimmt. Die Stimmung hellt sich auf, die Gier schwindet – dieser sehr eigentümliche Zusammenhang ist bekannt, aber kaum verstanden. Brauchen wir ein gewisses Maß an Unzufriedenheit, um sexuell gierig zu sein? Sind zufriedene Menschen möglicherweise weniger scharf? Liebe dich selbst, und freu dich auf die nächste Krise im Bett?
Zu den physischen Unwägbarkeiten kommt der psychische
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