Liebe
Zellulitis, sondern Menschen, die es so gar nicht wirklich gibt (was hervorragend zu den entsprechenden Geschichten passt).
Attraktion ist ein gefährliches Gift für die Psyche. Man hat immer zu wenig, nie zu viel. Und wir haben Körper auf Zeit, sie sind vergänglich: Man kann dick werden, krank, und man bleibt nicht jung. Der klassifizierende Röntgenblick, den wir aussenden, und der gleiche Röntgenblick anderer, den wir auf unsere Haut spüren, ist ein latenter Terror. Ein schnelles Verlieben wird dadurch ebenso wenig begünstigt wie eine erfüllte Sexualität. Nach Eva Illouz, Professorin an der Hebrew University in Jerusalem, ist diese terreur der größtmögliche Angriff auf das spontane große Gefühl: »Die populäre Sicht der Liebe, die
in sozialpsychologischen Lehrbüchern häufig wiederholt wird, lautet, dass sie zu Beginn >blind< ist, normalerweise aber ihren Grund entdeckt, sobald die anfängliche Vernarrtheit nachlässt.« Tatsächlich jedoch habe das »Modell von Liebe als intensivem und spontanem Gefühl an Einfluss verloren«, weil Sexualität und Liebe immer weiter auseinanderklafften: »Da die Sexualität nicht in einem geistigen Liebesideal sublimiert werden muss und die >Selbstverwirklichung< angeblich vom Experimentieren mit einer Reihe von Partnern abhängt, ist die Absolutheit, die von der Erfahrung der Liebe auf den ersten Blick vermittelt wurde, heute zu einem kühlen Hedonismus des Freizeitkonsums und der rationalisierten Suche nach dem geeignetsten Partner verblasst. Die Jagd nach Vergnügen und das Sammeln von Informationen über potentielle Partner bilden heute das Anfangsstadium der Liebe.« 112
Drei entscheidende Merkmale sieht Illouz auf dem Liebesmarkt im Zeitalter der massenmedialen Herstellbarkeit von Romantik. Erstens: Das sexuelle Vergnügen ist ein legitimer Selbstzweck geworden für Frauen wie für Männer. Zweitens: Für jede Romanze steht heute ein festes Set an Waren und Freizeitritualen zur Verfügung. Und drittens: Man nimmt heute eine allseits bekannte und im Prinzip überall ähnliche Haltung als Liebende oder Liebender ein. Man ist aufmerksam, hört interessiert zu, macht Komplimente, äußert Sätze der Anteilnahme, versucht witzig zu sein, wenn man kann, und denkt sich eine Menge Freizeitspaß aus.
Wer heute ein Maximum an Ertrag für seine Attraktivität erzielen will, der wechselt gekonnt zwischen all dem hin und her. Wir wollen Gewinne erzielen, Lustgewinne und Herzensgewinne, mal das eine oder das andere, mal beides bei einer Person. Wie viel ist mir etwas wert? Was bringt es? »Lohnt es sich?« Diese Fragen bestimmen unser Leben, warum also nicht auch unser Lieben? Lebe dich aus, und lass dir nichts entgehen, lautet das Credo der Massenmedien und unserer Zeit.
Die wichtigste Folge daraus ist die Allgegenwart von Sex – als Idee, als Anspruch, als Phantasie, als Abgrund, als Verlangen, als Kaufanreiz, als Sehnsucht, als Wettkampf und so weiter. Jeder durchschnittliche Jugendliche hat mit sechzehn mehr nackte Frauen in Film und Fernsehen, auf Plakatwänden, DVDs oder im Internet gesehen als die Generation unserer Großeltern im ganzen Leben. Und wenn sie selbst auch wenig praktische Erfahrungen haben, so kennen sie doch zumindest theoretisch alles oder glauben alles wissen zu müssen. Der visuelle Ballast in ihrem Gehirn ist gewaltig. Und die langfristigen Folgen dieses wohl beispiellosen Experiments der Tabulosigkeit sind zwar unbekannt, aber durchaus zu fürchten.
Der Name für die neuen Identitäten im Kreuzfeuer von Narzissmus und Porno, Internet und Love Parade, Exhibitionismus und Viagra ist schon gefunden. Neosexualitäten nennt sie der Arzt und Soziologe Volkmar Sigusch, langjähriger Leiter des inzwischen geschlossenen Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft. Wie wenige andere in Deutschland reflektiert Sigusch seit 40 Jahren die Konsequenzen der sexuellen Revolution für unsere Gesellschaft. Für ihn ist der »kulturelle Wandel von Liebe und Perversion« seit dem Umbruch von 1968 nicht einfach eine gerade Linie zu mehr Freiheit und Individualität. Denn statt mehr Sex praktizieren die Deutschen heute vermutlich weniger. Ein seltsames Resultat und deshalb überaus erklärungsbedürftig.
Geht es nach Sigusch, so ist die Allgegenwart der Sexualität der Grund für ihren enormen Bedeutungsverlust. Hatte Foucault die Geschichte der Sexualität noch als eine Geschichte des Besonderen, des Anarchistischen und Ausgegrenzten erzählt, so ist
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