Liebe
Freunden. Ohne uns dessen bewusst zu sein wandert unser Verhalten wieder zurück in die Zeit vor der Romantik: Sex und Bindung driften auseinander. Der Gefährte vom schönen Fleisch sorgt für die Lust; die Gefährten im Geiste stiften und nähren die Bindung.
In all dem unterstützen uns Wohlstand und Freizeit. Sie ermöglichen, dass wir heute nicht mehr erwachsen zu werden brauchen – erwachsen im Sinne von ausgewachsen und fertig. Wer vom unmittelbaren Selektionsdruck einer rauen Umwelt verschont ist, wer nicht Hunger, Kälte, Krieg und Not zu fürchten hat, der kann es sich leisten, auf der Suche zu bleiben; auf der Suche sogar nach romantischer Verschmelzung, sofern die körperliche nicht mehr der Fortpflanzung dient.
Wenn es richtig ist, dass, wie der französische Mediziner Emil Devaux in den 1920er Jahren erkannte, der Mensch deshalb so lange lernfähig bleibt, weil sich ein erheblicher Teil seines Gehirns erst nach der Geburt ausprägt, so gilt Gleiches auch für seine Kultur. »Neotenie« nannte Devaux das späte Gehirnwachstum, das unsere Intelligenz befeuert. In Anlehnung daran möchte ich von »kultureller Neotenie« sprechen, der verlangsamten Ausreifung des Menschen aufgrund von Wohlstand und Freizeit. Kulturelle Neotenie wäre die Chance (oder der Fluch), dass wir in unseren modernen Gesellschaften ein Leben lang nicht mehr ausreifen. Und so wie der neugeborene Mensch hilflos erscheint gegenüber jedem Affenkind, so hilflos sind wir in unserer kulturellen Neotenie verglichen mit den vermutlich instinktsicheren Reifungsprozessen unserer Vorfahren.
Das Wort Midlife-Crisis ist heute nahezu ausgestorben. Der Grund: Die Menschen in der westlichen Welt leben heute in der permanenten Midlife-Crisis. Sie beginnt spätestens mit Mitte zwanzig und hört nicht mehr auf. Wir kommen heute immer schneller in die gefühlte Lebens-Mitte und bleiben viel länger drin. Ernährung, Medizin und Medien sorgen heute dafür, dass die Jugendlichen in den Wohlstandsstaaten in atemberaubendem Tempo heranreifen. Und alle wollen zwar möglichst lange leben, allerdings ohne alt zu sein. Leibesertüchtigungen und Leibesverschönerungen, Meditation und gesunde Ernährung sollen uns davor bewahren. Wir wollen ewig suchen, ohne anzukommen. Das macht Spaß, ist aber auch anstrengend.
Im Rahmen solch kulturell neotener Lebensentwürfe wird selbst die romantische Idee der Kernfamilie zum Übergangsstadium. Auch wenn sie überraschend stabil sein sollte, so ist sie dennoch kein Lebensprojekt mehr. Obwohl wir im Schnitt immer später damit anfangen, eine Familie zu gründen, so wird die Zeit, nachdem die Kinder aus dem Haus sind, im Verhältnis gleichwohl länger als die Verschiebung am Anfang. Das Durchschnittsalter der Menschen in Westeuropa liegt heute bei Mitte siebzig. In 30, 40 Jahren könnte es bei Mitte neunzig liegen oder sogar noch höher. Wenn dann die Kinder aus dem Haus sind, befindet man sich möglicherweise ganz real in der Lebensmitte. Die Folgen sind schon jetzt vorgezeichnet. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen büßen ihr sexuelles Interesse auch dann nicht ein, wenn die Fortpflanzung kein Thema mehr ist. Die emotionale Dynamik der Frauen entspricht dann nicht mehr ihrer biologischen Dynamik.
Umgangs formen mit einem unordentlichen Gefühl
Kein Tier, vermutet der niederländische Verhaltensforscher Frans de Waal, wird so sehr »von inneren Konflikten geplagt« wie der Mensch. 126 Was seine Liebesgefühle anbelangt, so idealisierte die Romantik die Verschmelzung mit dem Partner auf eine so totale Weise, dass dem Leben kaum noch Luft bleibt. Kein Wunder, dass dieser ekstatische Moment ursprünglich auch nur als Momentaufnahme gedacht war. Wenn er Leben gewann, dann nur als Fiktion in der Literatur. Das 19. Jahrhundert übertrug diesen Gedanken vereinzelt und zaghaft in die Realität. Und erst das 20. Jahrhundert machte daraus eine allgemeine Erwartungshaltung an die Liebesbeziehung. Die heutigen unordentlichen Konflikte zwischen Frau und Mann – Treue und Untreue, Individualisierung und Rückbindung, Selbstverwirklichung und Familie – sind ihre Folge. Solche »Wahrheitsspiele« hatten in den Jahrhunderten zuvor keinen Raum, denn ihre Ansprüche waren nicht legitim.
All dies zeigt, wie gefährdet heutige Liebesbeziehungen sind – gefährdet, nicht unmöglich. Wie Eva Illouz beschreibt, hat vor allem die Mittelschicht und die obere Mittelschicht die besten Karten, um ihre Romantik auch tatsächlich zu
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