Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
Vom Netzwerk:
seltsamsten Sexual- und Gemütsleben, von dem in diesem Buch die Rede war, sucht zumeist alles und von allem das Gegenteil. Geborgenheit und Fremdheit, Nähe und Distanz, Aufregung und Beruhigung, Stärke und Schwäche, Erschütterung und Bestätigung. Ein grundsätzlicher Vorrang der Erschütterung vor der Bestätigung ist philosophisches Wunschdenken. Umgekehrt ist es wahrscheinlicher. Und mein Veränderungs wille ist ebenso leicht zu überschätzen wie meine langfristige Veränderungs fähigkeit . Maximal 20 Prozent meiner Persönlichkeit, vermuten viele Hirnforscher, stehen als Erwachsener noch auf dem Spiel. In dieser Situation ist Galimbertis totalitäre Forderung nach » bedingungsloser Auslieferung an das Andersartige« 129 ebenso eine Überforderung wie der wohlmeinende Innerlichkeitsterrorismus jener Therapeuten, die ihre Patienten zur Selbstlosigkeit erziehen möchten.
    Eingekeilt zwischen dem kompromisslosen »Prinzip Eigennutz« der Radikalbiologen und den gesinnungspolizeilichen Altruismusgeboten der Therapeuten und Lebensphilosophen, bedarf das seltsamste aller Tiere heute keines weiteren Vergleichs mehr mit Würgervögeln, Gladiatorenfröschen oder Präriewühlmäusen. Seine Liebe gilt sicher dem von den evolutionären Psychologen verkündeten »Erwerb von Ressourcen« – aber diese Ressourcen sind nicht nur Gene, Geld und Macht. Es ist unser ganz persönlicher psychischer Möglichkeitssinn, der durch einen
anderen Menschen inspiriert wird. Wer sich auf einen anderen Menschen einlässt, wer sich ihm seelisch »hingibt«, der erweitertet seinen Horizont und ersetzt seinen Wirklichkeitssinn durch Möglichkeitssinn. Es ist ein Sinn für die vielen alternativen Möglichkeiten, wie man fühlen, sehen, denken und leben kann. Er geht weit über die biologischen »Ressourcen« hinaus. Was ist eine gut gefüllte Speisekammer gegen einen faszinierenden Geist, eine verführerische Musikalität, einen betörenden Charme oder umwerfenden Witz?
    Wenn wir uns verlieben, öffnen wir den Sinn für unsere Möglichkeiten: Unsere Motive werden stärker, unsere Wünsche sehnlicher, unser Begehren heißer. Wenn wir länger zusammen sind und unsere Verliebtheit in Liebe übergeht, wird aus dem Fernhorizont ein Möglichkeitssinn im Nahbereich. Wir wollen keine Berge mehr versetzen, sondern Vertrautheit spüren, und viele kleinere Aufregungen statt unendlicher großer tun es auch.
    Unser Wirklichkeitssinn und unser Möglichkeitssinn spielen untrennbar zusammen. Diese Dynamik bestimmt unsere Leben, zerreißt es, versöhnt es und zerreißt es wieder. Spencers Traum, dass die Natur der Welt und die Natur des Menschen zur Harmonie drängten, zur dauerhaften Versöhnung aller Komponenten, ist eine Illusion. Für ein dauerhaftes konstantes Glück ist der Mensch nicht geschaffen, nur für den Traum von diesem Glück. Nichts spricht dafür, und alle Erfahrung dagegen, dass die Gehirne unserer Vorfahren mit ihrer komplizierten Chemie jemals nach dem Kriterium der Glücksfähigkeit »optimiert« wurden. Keine Anpassung an die Umwelt erforderte den Zustand dauerhaften Glücks. Und kein permanentes Glücks- Spandrel sprang irrtümlich dabei heraus. Im Gegenteil: Das Leben baut nichts auf, wozu es nicht die Steine woanders herholt. Mit unserem Gehirn ist es nicht anders: Jede starke Stimmung provoziert ihre Gegenstimmung. In unserem Leben bekommt alles seinen Wert aus diesem Gegensatz: keine Verschmelzungsgefühle ohne das
Gefühl der Einsamkeit; keine Romantik ohne das Wissen um die Routine und das Profane; keine Lebensfreude ohne das Wissen um Leid und Trauer; keine Seligkeit ohne Sterblichkeit.
    Wenn nichts schiefgehen kann, geht auch nichts gut. Die Liebe als größte unserer Sehnsüchte weiß das sehr gut: Sie ist das Unwahrscheinliche, das Besondere, das Zerbrechliche, das Bedrohte. Nimmt man all dies von ihr fort, so wird sie schnell langweilig. Selbstverständlich geliebt zu werden, ist ein erhebendes Gefühl – weil es nicht selbstverständlich ist.

Angelächelt werden im Boot
    Weil es nicht selbstverständlich ist...
    Die Hand meiner Frau umfasst schon den Türrahmen. Vor dem Fenster ist Sonntagabend. Ein Abend mit Goldrand. Wolken am Winterhimmel – ein Stück Antarktis auf dem Weg nach Hause. Meine Frau lächelt, wir wollen essen gehen. Ich komme zum Ende. Was soll ich noch sagen?
    Für die einen ist die Liebe durch keinen Konsum erreichbar, durch keine Kommunikationsstrategie zu gewinnen und zu retten. Sie ist tragisch

Weitere Kostenlose Bücher