Liebe
Eine verbindliche Regel erwächst daraus gleichwohl nicht. Eine ungeklärte Frage ist auch, wie sich die gegenwärtige Praxis in die Zukunft fortsetzen soll. Wenn es richtig ist, dass, wie Hondrich meint, die Bewegung nicht »von den traditionellen Bindungen und Zwängen zu den Wahlbindungen, sondern genau umgekehrt« 123 verläuft und die Herkunftsfamilie immer mehr Gewicht bekommt – was macht denn dann die nächste Generation, die ja in wachsender Zahl gar nicht mehr aus Kernfamilien stammt? Die »Herkunft« wird zu einer immer komplizierteren Angelegenheit. Mal sind weniger Großeltern und Tanten mit eingebunden, ein anderes Mal sind es mehr. Und die Zuständigkeiten verschwimmen. Die Brücke zu den Wurzeln, die Hondrich »Rückbindung« genannt hat, findet irgendwann immer schwerer ein festes Ufer.
Was ich mir in dieser Situation vorstellen könnte, wären Familienverbände, die einige Gemeinsamkeiten mit Elefanten haben. Elefanten leben in einer Herde, einem Großfamilienverband aus Müttern und Tanten, Großmüttern und Großtanten, Kindern und Enkeln. Leittier ist eine erfahrene ältere Kuh: Sie gibt der Herde Halt und Orientierung und vermittelt auch die vielfältigen Verhaltenscodes und »Werte«. Was bei all dem fehlt, sind die Männer. Etwa im Alter von zwölf Jahren geht etwas Gespenstisches mit einem Jungbullen vor. Wenn der Winter kommt, schießt eine Unmenge von Testosteron in sein Gehirn und vergiftet
ihm die Sinne. Die Konzentration des Sexualhormons schwillt auf das 60-fache an. Ein schwarzes Sekret tritt aus den Schläfen- und Temporaldrüsen aus, der Rüsselansatz schwillt, der Bulle stinkt mörderisch nach Schweiß und Urin, und seine Penisvorhaut verfärbt sich ins Grünliche. Musth (Zustand der Vergiftung) nannten die Perser diese dämonische Wandlung bei ihren Kriegselefanten. In diesem Zustand ist der Bulle für die Herde untragbar. Von nun an streift er allein oder in Junggesellentrupps durch Wald und Savanne. Wenn er sich später der Herde nähert, dann nur noch, weil ein erneuter Testosteronschub ihn zur Paarung drängt. Doch nur abseits der anderen darf er sich einer Kuh nähern und sie begatten. Mit der Familie hat er für immer nichts mehr zu tun.
Elefanten sind keine Menschen. Und die Verwandtschaft endet mit der Tatsache, dass Elefanten und Menschen Säugetiere sind. Zwei Arten unter mehr als 5000. Der Verweis auf die Familienstruktur von Elefanten ist also alles andere als ein Vergleich im Sinne der evolutionären Psychologie. Was mich in unserer Menschengesellschaft in der westlichen Welt heute an Elefanten erinnert, ist nicht nur die schon vor mehr als einem Jahrzehnt beklagte »Vaterlose Gesellschaft«. Die Zahl der Väter, die ihrer Familie den Rücken kehren, ist auch heute hoch, aber seit den 1990er Jahren immerhin nicht weiter gestiegen. Und Männer, die in Junggesellenverbänden leben, geben diese meist nach ihrer Studentenschaft auf. Wichtiger an diesem Vergleich ist die neue Großfamilienstruktur. Noch sind unsere Herkunftsfamilien eng blutsverwandte Kleingruppen. Doch je mehr Patchworkfamilien heute zusammenwachsen, umso vielfältiger werden unsere Herkunftsherden – genetisch wie sozial. Und dass vor allem Frauen darin eine Schlüsselstellung einnehmen werden, würde mich nicht verwundern.
Ob diese Entwicklung so oder ähnlich eintreten wird, ist natürlich eine Spekulation. Ihre Wahrscheinlichkeit hängt nicht nur von einer psychologischen Dynamik in der Gesellschaft ab,
sondern auch von der wirtschaftlichen. Je geringer der Reichtum, umso eingeschränkter unsere Wahlmöglichkeiten. Kälte und Hunger haben schon immer Körper und Seelen zusammengezogen. Und in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs verringern sich auch die Selbstverwirklichungsphantasien. So gesehen ist in den Zeiten der Finanzkrise auch eine Renaissance traditioneller Familienmodelle nicht ganz unwahrscheinlich.
14. KAPITEL
Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn
Warum uns die Liebe so wichtig bleibt
And I may be obliged to defend
Every love, every ending
Or maybe I’ve a reason to believe
We all will be received
In Graceland
Paul Simon
Spencers Traum
»Man wird leicht begreifen, dass die Ausbildung der höheren intellectuellen Fähigkeiten mit dem socialen Fortschritt immer Hand in Hand gegangen ist, so gut wie Ursache und Folge.« 124 Je komplizierter die sozialen Zusammenhänge der Kultur, umso schlauer wird der Mensch. Und je schlauer der Mensch, umso komplizierter seine
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