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Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
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Kultur. Als der Wirtschaftsjournalist und Philosoph Herbert Spencer (1820-1903) dies schrieb, stand die Welt zu Beginn einer Revolution. Charles Darwin hatte soeben Über die Entstehung der Arten veröffentlicht. Und was Darwin 1859 in der Natur vorzufinden meinte, das übertrug Spencer auf die Gesellschaft: das Prinzip einer unaufhaltsamen Evolution, eines naturgegebenen sozialen Fortschritts. Von den Sternen über die Moose und Maulwürfe bis hin zum Menschen
dränge alles zum Besseren und Vollkommenen – zur möglichst perfekten Harmonie.
    Musste man nicht einfach nur die »Prinzipien« erkennen, die dieser kosmischen Entwicklung zugrunde liegen, um alles – und damit auch alles Menschliche – zu verstehen? Spencers Traum, die Analyse des Menschen von der Biologie über die Psychologie und Soziologie bis zur Ethik zu treiben, ist heute aktueller denn je zuvor. Er – und nicht Darwin – ist der Urvater der Soziobiologie und der evolutionären Psychologie. Der Gedanke allerdings, dass die Prinzipien und Werkstoffe des biologischen Kellerbaus sich auch im psychologischen Erdgeschoss, im ersten Stock der Soziologie und im moralischen Dachstuhl genauso wiederfinden lassen, ist heute passé. Von den Genen und Hormonen zu den Vertracktheiten heutiger Liebessehnsüchte, Geschlechterkonflikte und Familienprobleme führt kein direkter Weg. Und es bedarf schon einer gehörigen Portion Naivität und Unverfrorenheit im Angesicht der enorm gefüllten Bibliotheken der Psychologie, der Soziologie und der Philosophie, um ihre Einsichten auf die Ausformung biologisch-evolutionärer Prinzipien reduzieren zu wollen.
    Neugierig habe ich in meinem Versuch über die Liebe den gleichen Stockwerkbau von der Biologie über die Psychologie zur Soziologie gemacht – allerdings in der Annahme, dass es sich bei jedem Geschoss um etwas Eigenes und Neues handelt. Gewiss könnte nichts davon existieren ohne das jeweils darunterliegende Stockwerk. Aber mit jedem neuen Stockwerk entstehen zugleich neue Schwierigkeiten und eigene Gesetzmäßigkeiten. Unsere Gene drängen uns zur Vermehrung. Unsere Lust drängt uns nach Lusterfüllung. Unsere Emotionen motivieren uns dazu, sie als Trieb oder als Liebesgefühle zu deuten. Unsere Liebesgefühle lösen liebevolle Gedanken aus. Unsere liebevollen Gedanken spinnen Vorstellungen und wecken Erwartungen. Doch bei all dem gilt: Die Logik unserer Gene ist nicht die Logik unserer Lust, die Logik unserer Lust ist nicht die Logik unserer
Gefühle, die Logik unserer Gefühle ist nicht die Logik unseres Denkens, und die Logik unseres Denkens ist nicht die Logik unseres Handelns.
    Die menschliche Evolution, wenn wir sie denn tatsächlich verstehen wollen, muss psychologisiert werden und nicht nur die Psyche naturalisiert. »Wo die Psychologie beginnt, hört die Monumentalität auf«, schrieb der 26-jährige Philosoph Georg Lukács 1911 in seinem Aufsatz Die Seele und die Formen . Denn »wo die Psychologie beginnt, da gibt es keine Taten mehr, nur noch Motive der Taten; und was der Gründe bedarf, was eine Begründung verträgt, das hat schon alle Festigkeit und Eindeutigkeit verloren. Mag auch unter Trümmerresten etwas übrig geblieben sein, die Flut der Gründe wäscht es unaufhaltsam hinweg.« 125
    Lukács dachte nicht an die evolutionären Psychologen, als er dies schrieb – es gab sie noch nicht. Auch ihre Vorgänger, die Sozialdarwinisten, waren nicht seine Gegner. Ihm ging es um die Frage, was sich über den Menschen überhaupt verbindlich erzählen lässt, was sich festschreiben lässt. Denn der Mensch ist so viel mehr, als die Summe seiner Taten verrät. Ein außerirdischer Verhaltensforscher, der unseren Alltag mit dem Fernrohr belauschte, würde unsere Art vermutlich für ziemlich langweilig halten: Wir schlafen, ziehen uns an, essen, gehen, sitzen, reden, ziehen uns wieder aus, haben gelegentlich Sex und schlafen wieder. Was uns zu dem macht, was wir sind, sind unsere Absichten, Motive, Wünsche, Antriebsfedern, unser Begehren, unsere Widersprüche, unsere Halbherzigkeiten, unsere Inkonsequenz, unsere Unentschiedenheit, unsere Abgründe. Und ohne all dies, so steht zu vermuten, ist auch unsere jüngere Evolution nicht zu begreifen und nicht die schnellen, irrationalen, launischen, unbeständigen Veränderungen unserer Liebes- und Sexualdynamik, die die Gesellschaft heute kennt.
    Was die Liebe im Innersten zusammenhält, ist kein Naturgesetz. Was sie zusammenhält, ist ein Wort – der Begriff

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