Liebe
leben, »weil sie über die notwendigen ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen verfügen; die moderne Liebespraxis ist auf deren soziale Identität im Allgemeinen und auf die Arbeitsidentität im Besonderen abgestimmt. Das heißt die Wohlhabenden haben problemlosen Zugang zu ihren utopischen Bedeutungen, gleichwohl kein gefestigtes Wert- und Identitätsgefühl in der romantischen Liebe.« 127
Der Mangel an Wert- und Identitätsgefühl in den heutigen Mittelschichten ist keine Folge von übertriebenem Egoismus und ungezügelter Sexualmoral. In einer Angebotsgesellschaft, die neben der Chance auch den Zwang zur Individualisierung mit sich bringt, explodieren die Werte geradezu. Nicht Wertemangel,
sondern ein Zuviel an Werten sorgt heute allerorten für Orientierungsverlust. Im Strauchdickicht zwischen »echtem« Gefühl und gekauften Waren, zwischen Wohlstands- und Herzensromantik geht man leicht verloren. Mitunter ist der Karibik-Urlaub auch ohne Partner romantisch; der Partner ohne Karibik allerdings nicht mehr.
Wir haben nicht weniger Werte als früher, sondern mehr. Glück in der Beziehung ist unsere Sehnsucht. Und Glück ohne Beziehung ist der Fluchtpunkt. Eine Beziehung ohne Glück aber ist keine Lösung. Unsere Ansprüche haben längst alle früheren Ansprüche verblassen lassen. Auf den Balzplätzen der Individuen punktet Besonderheit heute mehr als Verlässlichkeit. Und jede Individualitätsgeste erhöht den Wert eines begehrten Partners. Wer will noch einen Partner »von der Stange«, der durch nichts auffällt? Wie Könige und Hollywood-Stars schaffen sich vor allem die Jüngeren unter uns Zugewinne an Bedeutsamkeit durch die Partnerwahl, für uns – und noch mal für uns, durch den Blick der anderen.
Das Paradoxe an dieser Situation ist: Was wir von der Liebe wollen und was wir in der Liebe wollen, passt kaum noch zusammen. Von der Liebe wollen wir Halt und Bindung, in der Liebe Freiheit und Aufregung. In unseren Gehirnen tummeln sich die Phantasien und wechseln unausgesetzt den Sitzplatz zwischen Realität und Fiktion.
Negativ gesehen sind wir unzuverlässig geworden, unberechenbar für uns selbst und für den anderen. Kein Sternberg’sches Drehbuch legt unsere Rolle heute noch eindeutig und auf die Dauer verbindlich fest. Mit einem neuen Partner wechseln wir unter Umständen auch mal das Charakterfach. Und wir kennen die Klischees, unsere eigenen und die der anderen. Die Liebeswaren-Industrie hat alle Winkel unserer Psyche abgesucht nach romantischen Produkten – in Film und Fernsehen und in der Werbung auf jeder Pralinenschachtel. Was wir für unsere Phantasien halten, sind nicht nur unsere.
Positiv betrachtet sind wir durch nichts mehr so leicht zu schockieren. Nicht nur in der Sexualität ist uns – zumindest theoretisch – wenig fremd geblieben. Auch die Geschlechterkonflikte treffen uns nicht mehr unvorbereitet. Unsere Kinder kennen diese Konflikte aus Vorabendserien, lange bevor sie selbst zum ersten Mal welche haben. Was ehemals schockierte, überraschte, verstörte, ist heute allseits bekannt. Das psychologische Maß wächst mit der Gewöhnung. Der junge Goethe, der vor dem Straßburger Münster in Tränen der Bewunderung ausbrach, ist den Kaugummi kauenden Schulklassen von heute ein verirrter Spinner. Und den Philosophen Walter Benjamin, den die Berliner S-Bahn-Züge der 1920er Jahre bei Tempo 40 so sehr in einen Geschwindigkeitsrausch versetzten, dass er um seinen Verstand fürchtete, möchte man sich nicht auf einem heutigen Kirmes- Booster vorstellen.
Romantische Liebe ist heute eine viel bewusstere Angelegenheit, als sie es je war. Sie überkommt einen nicht mehr, man kennt sie lange bevor sie sich einem nähert. Und man kennt auch die Fallstricke, die der Romantik so leicht den Garaus machen. Mut gegenüber dem Gefühl und Vorsicht gegenüber seinen alltäglichen Bedrohungen sind der Liebe häufig von Anfang an eingezeichnet. Ihre persönlichen Wahrheitsspiele mögen jedes Mal neu sein; ihre Muster kennen wir längst. Erwartungen und Erwartungserwartungen werden nicht weniger enttäuscht als früher, und der Schmerz, den diese Enttäuschungen auslösen, ist nicht viel kleiner geworden. Gleichwohl überrascht es uns nicht mehr so sehr. Wenn wir im passenden Alter sind, sehnen wir uns nach einer intakten Kernfamilie; aber es kann uns nicht im Ernst völlig verwundern, dass auch wir das nicht hinbekommen haben.
Gewiss: Je diffuser die Rollenaufteilung in den Paarbeziehungen
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