Liebe
Organe oder funktionslosen Zierrat in der Natur; sie übertrugen ihn auch auf den Menschen. Ihr wichtigstes Beispiel ist die Religiosität. Es ist sehr schwer, einen evolutionären Vorteil darin zu sehen, dass jemand an Gott glaubt. Aber ab einem bestimmten Grad der Intelligenz und Sensibilität waren Menschen offensichtlich zu Leistungen in der Lage, die sie vermutlich gar nicht brauchten. Sie produzierten Spandrels in Hülle und Fülle, gleichsam als Dreingaben anderer Anpassungen. Auf diese Weise ist anzunehmen, dass das Wissen um die eigene Sterblichkeit und die Angst vor dem Tod als Folge der Fähigkeit zur Selbstreflexion entstand. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion könnte bereits ebenfalls ein Spandrel gewesen sein, entstanden aus der überlebensnotwendigen Fähigkeit der sozialen Intelligenz im Hordenverband. Das bedeutet: Weil sie so vieles begriffen, begriffen unsere Vorfahren eines Tages auch, dass sie sterblich waren. Und dieses Unbehagen musste bekämpft werden – durch Religion. Mit anderen Worten: Der Glaube, der den Markusdom mit seinen vielen Spandrillen hervorbrachte, ist demnach selbst ein Spandrel.
Lewontin und Gould wendeten ihre Theorie (meines Wissens nach) nicht auf die Liebe an. Doch wenn es richtig ist, dass die Fähigkeit zu lieben aus der Mutter-Kind-Beziehung entspringt, dann wäre jeder andere Gebrauch möglicherweise ebenfalls ein Spandrel. Sensibilität und Intelligenz könnten Menschen dazu gebracht haben, ihren emotionalen Wirkungskreis über die engste Familie hinaus auszudehnen. Ansätze dazu gibt es nach Jane Goodall bereits bei Schimpansen und anderen Menschenaffen: die Tiere pflegen zueinander individuelle Beziehungen. Die Liebesfähigkeit weitete sich aus auf andere Hordenmitglieder, auf »Freunde« und eben auch auf das andere Geschlecht.
Trifft dies zu, so wäre die Liebe zwischen Mann und Frau nur ein »logisches Abfallprodukt« der Mutter-Kind-Beziehung in sensiblen und intelligenten Familien- und Hordenverbänden. Die Mutter-Kind-Beziehung ist der Torbogen, die Liebe zwischen Mann und Frau das Dreieck. In diesem Sinne wäre unsere Fähigkeit zur Liebe zwischen den Geschlechtern zwar das Ergebnis einer Anpassung, aber einer Anpassung, die nicht zwingend notwendig war. Im genetisch-evolutionären Sinne bleibt die geschlechtliche Liebe eine »harmlose Überflüssigkeit«. Denn ohne Liebe geht es zwischen Mann und Frau auch!
Dass die Liebe ein Spandrel ist, ebenso wie die Religion, würde auch erklären, warum beides so oft und so gern kurzgeschlossen wird. Die Liebe zu Gott, zu Jesus, zu Maria, zum Glauben, zur einen und einzigen Wahrheit – kaum eine Disziplin, die einen solchen Einsatz an Liebe einfordert wie die christliche Religion. Im Islam ist es nicht völlig anders. Psychologisch erfüllen die Religion wie die Liebe das gleiche Bedürfnis nach Glück, Bestätigung, Orientierung, Vertrauen, seelischer Erleichterung und Geborgenheit; Bedürfnisse, die den Menschen spätestens in dem Moment überkamen, als er gelernt hatte, erfolgreich über sich und seinen wackeligen Platz in der Welt nachzudenken.
Einmal existent, erwies sich die geschlechtliche Liebe als eine wichtige Projektionsfläche für das Bedürfnis nach innerer Stabilität und Sicherheit. Liebende, ganz gleich ob Freunde, Geschwister, eine geliebte Frau oder ein geliebter Mann, suchen aneinander Gemeinsamkeiten. Geteilte Empfindungen verleihen Halt. Gut möglich, dass diese gesuchte und projizierte Sicherheit in der Gemeinsamkeit sich irgendwann selbst zu einem Motor der Evolution entwickelt hat. Je stärker die Sensibilität zunahm und je mehr sie mit in ihr Gesichtsfeld und ihren Wirkungskreis aufnahm, umso eindrucksvoller und differenzierter wurde das Sozialverhalten. Kein Lebewesen verfügt über so viele Quellen der Empathie und Liebe wie der Mensch.
Bei alldem ist es unsinnig, darüber zu streiten, ob die geschlechtliche
Liebe biologisch oder kulturell ist, denn wo genau läge der Übergang? Kultur ist die Fortsetzung der Biologie mit eigenen Mitteln, aber die Mittel selbst waren irgendwann einmal biologischen Ursprungs. Das Problem ist also nur eine Frage der Perspektive: Werden die Töne einer Trommel vom Trommler erzeugt oder von der Trommel?
Biologisch falsch ist es nur, in der Liebe einen Trick der Natur zu sehen, um über die Sexualität möglichst optimale Nachkommen zu erzeugen. Denn schöne Kinder kriegt man auch ohne Liebe und mit Liebe nicht unbedingt. Manche Liebende haben keinen
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