Liebe
missverständliches Erbe der Romantik. In anderen westeuropäischen Sprachen ist das nicht anders. Auf Englisch gibt es noch nicht einmal eine Verliebtheit, sondern man plumpst gleich in die Liebe hinein: to fall in love.
Um die Liebe zu verstehen – intellektuell zu verstehen -, muss man die verschiedenen Gefühlszustände voneinander unterscheiden. Haben sie doch weit weniger gemeinsam, als es das Etikett »Liebe« verspricht. Einen besonders gewalttätigen Versuch der Aufspaltung unternimmt die Anthropologin Helen Fisher, von der im vorigen Kapitel bereits die Rede war. Ihre drei Komponenten der Liebe sind Lust, Anziehung und Verbundenheit. Ob
diese drei Begriffe tatsächlich die Liebe erklären, sei erst einmal hintangestellt. Interessant ist Fishers Annahme, »dass man >Liebe< als drei grundlegende, voneinander verschiedene, aber untereinander zusammenhängende emotionale Systeme im Gehirn betrachten kann. Jedes Gefühlssystem geht mit einer spezifischen Konstellation neuronaler Korrelate einher, die man für gewöhnlich Gehirnsysteme oder Gehirnschaltkreise nennt. Jedem ist ein besonderes Verhaltensrepertoire zugeordnet. Und jedes entwickelte sich, um bei Vögeln und Säugetieren einen spezifischen Aspekt der Reproduktion zu steuern.« 61
Davon, dass die Liebe aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus der Sexualität entsprungen ist, war bereits ausführlich die Rede. Reproduktionsaspekte spielen hier wohl eher eine Nebenrolle. Naheliegend dagegen ist, dass »Lust« tatsächlich als emotionales System im Gehirn beschrieben werden könnte. Möglicherweise auch das, was Fisher »Anziehung« nennt und für das ich beim Menschen das Wort »Verliebtheit« bevorzuge. »Bindung«, in der Bedeutung von Fisher, meint bei der geschlechtlichen Liebe unter Menschen »Partnerschaft«. Aber wo bleibt bei alledem nun die »Liebe«? Ist sie tatsächlich die Summe dieser drei Teile? Oder ist sie – wie ich vermute – etwas anderes? Etwas, das bei Fisher völlig durch die Maschen fällt, weil es sich eben nicht als emotionales System mit einer entsprechenden Chemie im Gehirn erklären lässt? (So wie es auch in meiner neurobiologisch offensichtlich gut informierten Wahlheimat Luxemburg kein »Ich liebe dich!« gibt, sondern nur ein mattes »Ech hunn deck gär« oder »Ech si frou mat dir«, »Ich habe dich gerne« bzw. »ich bin froh mit dir.«)
Beginnen wir bei der Erklärung der Lust. Und stoßen damit bereits auf eine erste große Schwierigkeit. Mögen ungezählte Ratgeber aus der Feder von Wissenschaftsjournalisten uns auch klarmachen wollen, »warum wir aufeinander fliegen« oder »wie sich Leidenschaft erklärt« – in Wahrheit wissen wir darüber sehr wenig. Kein Hirnforscher und kein Biochemiker vermag
klar und eindeutig zu sagen, wie die Lust auf Sex entsteht. So bekannt die Rezeptoren, Hormone und Botenstoffe im Gehirn auch sein mögen – ihr Zusammenspiel gibt bis heute viele Rätsel auf. Wäre die Sache so klar, wie manche populäre Bücher es behaupten, so hätte die Industrie längst ein universelles Mittel auf den Markt gebracht, das jeden Menschen in Sekundenschnelle in sexuelle Erregung versetzt. Doch so intensiv daran in den Laboren der Welt auch geforscht und getüftelt wird-wir kommen bislang nur zu kleinen Teilerfolgen. Die Formel unserer Lust ist noch nicht gefunden. Wir kennen die Zutaten, aber nicht das Rezept. Das ist, bei näherer Betrachtung, auch nicht überraschend. An der Entstehung unserer Lust sind mehrere Sinne beteiligt. Ein Mensch kann uns anziehen, weil er körperlich attraktiv ist, weil er sich elegant und geschmeidig bewegt, weil er eine schöne, wohlklingende Stimme hat, weil er für uns verführerisch duftet. Aber auch aus ganz anderen Gründen. Zum Beispiel, weil er Macht hat, berühmt ist oder von vielen anderen bewundert wird. In jedem Fall sind zum Teil völlig unterschiedliche Hirnareale aktiv, die die Reize aufnehmen und verarbeiten. Außerdem kommt es bei der Lust neben der Attraktion auch auf die Situation an. Mein Hormonspiegel und meine Aufmerksamkeit für das andere Geschlecht sind nicht immer gleich.
Was wir wissen, ist, dass der Hypothalamus eine wichtige Rolle spielt. Wie erwähnt, steuert bei Frauen der Nucleus ventromedialis, bei Männern der Nucleus praeopticus medialis die sexuelle Lust. Neuere Untersuchungen mithilfe bildgebender Verfahren legen nahe, dass beide Kerne auch etwas mit dem Verliebtheitsgefühl zu tun haben. Biochemisch besteht damit zwischen Trieb
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