Liebe
darüber lässt sich nicht viel sagen. Gewiss erleichtert sie bei Menschen mitunter die Aufzucht der Kinder. Aber ohne die dauerhafte Liebe von Mann und Frau hätte es sicher auch andere Möglichkeiten gegeben. Zum Beispiel die Betreuung durch Tanten und Großtanten; ein Sozialverhalten, das man nicht nur von Affen kennt, sondern auch von Elefanten, Rentieren und bürgerlichen Familien im 19. Jahrhundert.
Das Einzige, was man sagen kann, ist also nur, dass die geschlechtliche Liebe unsere Vorfahren nicht in eine so starke geistige Umnachtung versetzt hat, dass sie deshalb ausstarben. Liebende Steinzeitmenschen hatten offensichtlich keine lebensbedrohlichen Nachteile.
Durchaus möglich also, dass die Liebe zwischen den Geschlechtern eine Ableitung, ein Umschweif ist aus der Mutter-Kind-Beziehung oder, je nach der Brutpflegekonstellation, aus der Eltern-Kind-Beziehung. Ein möglicher Beleg dafür wäre, dass es auch andere Ableitungen gibt, etwa die Liebe zu unseren Geschwistern, Verwandten und vor allem: zu unseren Freunden. Von der Seite unserer Gefühle ist es vollkommen unsinnig zu vermuten, dass unsere Verwandten uns unweigerlich und zwingend nahestehen. Hätte Hamilton mit seiner Gesamtfitness-Theorie recht, so müssten wir eigentlich ein unauflösbar festes Band haben, nicht nur zu unseren Geschwistern, sondern auch zu unseren Cousins und Cousinen. Gelegentlich ist dies in Familien der Fall, sehr oft jedoch spielen diese Verwandten in unserem Leben emotional gar keine besondere Rolle. Stattdessen suchen wir uns Freunde, die wir mitunter sogar mehr lieben als unsere Geschwister. Die Verwandtschaftsnähe ist also nicht der unbedingte Gradmesser unserer gefühlten Seelennähe, auch wenn unsere Gene das, nach Hamilton, eigentlich anders sehen müssten.
Die Regel »Alle Macht den Genen!« gilt also nicht immer und überall. Menschen sind dazu fähig, genetisch ferne Menschen zu lieben, sofern diese ihre Gefühle und Gedanken positiv stimulieren, ihnen Vertrauen einflößen und ihnen einen wie auch immer gearteten Halt im Leben geben. Meine Vermutung ist, dass das Bedürfnis nach Bindung und Nähe aus unserer kindlichen Beziehung zu unseren Eltern stammt. Gleichzeitig oder später sucht sich dieses Bedürfnis in vielen anderen Begegnungen eine Entsprechung. Hier – und nicht in einem genetisch-göttlichen Vermehrungsauftrag – liegt unser biologisches Erbe der Liebe.
Romantische Dreiecke
Die Kathedrale San Marco in Venedig ist ein berühmtes Bauwerk. Im 13. und 14. Jahrhundert im byzantinischen Stil errichtet, thronen fünf mächtige Kuppeln über der späteren Palastkapelle des Dogen von Venedig. Über fünfhundert antike Säulen aus Marmor, Porphyr, Jaspis, Serpentin und Alabaster zieren die Fassade und das Innere. Das eigentlich Spektakuläre aber sind die vielen Mosaiken auf Goldgrund. Sie trugen dem Markusdom den Namen »Goldene Basilika« ein. Jahr um Jahr besuchen Hunderttausende von Touristen die Attraktion.
Im Jahr 1978 allerdings fanden sich zwei ganz besondere Zaungäste zur Besichtigung ein: die US-amerikanischen Evolutionsbiologen Richard Lewontin und Stephen Jay Gould. Als sie die zahlreichen Säulenbogen des Kuppelbaus betrachteten, entflammte ihr Interesse. Aber sie interessierten sich nicht für die Bogen selbst, sondern für den Platz dazwischen. Wo auch immer zwei Bogen aufeinandertreffen, entsteht zwischen ihnen ein auf der Spitze stehendes Dreieck. Dieses Dreieck nennen Kunsthistoriker »Spandrille«, auf Englisch Spandrel. Architektonisch gesehen sind Spandrillen ein nicht beabsichtigtes, aber notwendiges Nebenprodukt der Bogenbauweise. In San Marco sind sie mit Mosaiken reich verziert, denn wo sie einmal unvermeidlicherweise da sind, hatte man sie ornamental reichlich genutzt.
Als Gould und Lewontin vor den Spandrillen standen, ging ihnen ein Licht auf: In der Architektur gibt es Dinge, die nicht beabsichtigt, aber trotzdem unvermeidbar sind. Könnte es nicht in der Biologie ganz genauso sein? War das nicht der Schlüssel, der erklärte, warum es in der Natur eine so unglaubliche Formenvielfalt gibt? Ein Gen transportiert eine nützliche Information, also den Rundbogen, und en passant liefert es eine oder mehrere Spandrillen dazu gleich mit? Die beiden Biologen prägten einen neuen Fachbegriff. Nach Gould und Lewontin heißen
biologisch nicht überlebensnotwendige Eigenschaften, Fähigkeiten oder Merkmale Spandrels.
Lewontin und Gould benutzten diesen Begriff nicht nur für unnötige
Weitere Kostenlose Bücher