Liebe
Aggressionen muss ich lernen zu zügeln, ich muss lernen, meine Gier zu unterdrücken und meine Ängste einzudämmen. Zwischen meinen Instinkten und meinem Verhalten klaffen mitunter Welten. Das Schöne und Beruhigende an der Liebe ist, dass sie weit mehr ist als ein Instinkt. Sie ist ein Bedürfnis und eine Versammlung von Vorstellungen. Sie ist als
Verlangen angeboren und als Fähigkeit durch Erfahrungen genährt und geprägt.
Einen »Liebestrieb für romantische Liebe« gibt es deshalb auch nur in der Phantasie ehrgeiziger Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wie Helen Fisher. Ihr hartnäckiger Versuch, den von ihr so genannten »Liebestrieb« mittels des Computers zu beweisen, führt nicht zur Wahrheit, sondern nach Absurdistan. Fisher untersuchte vierzig Menschen mithilfe eines »Lieb-o-Meters« im Kernspintomografen. Sie zeigte den Versuchsteilnehmenden Fotos ihrer Geliebten und maß gleichzeitig die Hirnströme. Nach Fisher lieferte die Liebesröhre ganz »wundervolle Bilder des >verliebten Gehirns<«. Der nüchterne Betrachter dagegen erkennt nichts weiter als eine erhöhte Blutzufuhr im mesolimbischen System, unserem zentralen Gefühlsareal im Zwischenhirn. Der Duft unseres Lieblingsgerichts und eine Musik, die uns elektrisiert, zeitigen die gleichen Reaktionen.
»Liebe« mit einem Computerbild zu beweisen ist in etwa so, wie Licht zu erklären, indem man auf den Lichtschalter verweist. Der tatsächliche Vorgang des Liebens, aus dem »die Liebe« besteht, ereignet sich dagegen auf mehreren Ebenen: Ein anderer Mensch übt einen starken sinnlichen (und zwar nicht ausschließlich sexuellen) Reiz auf mich aus. Fast automatisch werde ich von diesem Reiz »ergriffen« – eine Emotion. Im zweiten Schritt merke ich, dass etwas mit mir passiert – ein Gefühl. Ich reagiere nicht nur auf die von dem anderen Menschen ausgehenden Signale, sondern ich versuche sie zu begreifen, einschließlich der Gründe, die mich zu meiner Reaktion veranlassen. Verliebtsein muss als Verliebtsein begriffen werden und Liebe als Liebe. In einem dritten Schritt versetze ich mich bewusst so weit in den anderen hinein, dass ich auf seine Wünsche und Bedürfnisse eingehen kann – ein reflektiertes Verhalten.
Dieser Prozess geschieht nicht nur einmal, etwa beim ersten Verlieben. Er begegnet uns Tag für Tag in unseren Liebesbeziehungen – jedenfalls dann, wenn tatsächlich von Liebe die Rede
sein soll. Wir werden von der Gegenwart des anderen erfasst, wenn auch nicht immer so wie vielleicht beim ersten Mal. Wir richten unser Verhalten nach dem anderen aus, wenn auch nicht in uneingeschränktem Maß. Und wir gehen auf den anderen ein, jedenfalls so weit wir glauben, dass es für uns gut ist. Alle drei zusammen – Emotion, Gefühl und Verhalten – machen das aus, was wir Liebe nennen. Solange eines der drei fehlt, erscheint uns die Liebe unerfüllt, unvollständig oder beschädigt.
Um die Liebe zu verstehen, müssen wir von der Biochemie über die Instinktlehre weiter in die menschliche Psyche und Kultur vordringen. Denn was auch immer unsere Vorfahren beseelte, wenn sie vor zwei oder vier Millionen Jahren auf ein faszinierendes Gegenüber trafen – es wird nicht ganz exakt das gleiche sein, was wir in der heutigen Zeit in unserem Kulturkreis unter »Liebe« verstehen. Unsere Emotionen mögen dabei stammesgeschichtlich sehr alt sein, unsere Vorstellungen sind es eher nicht. Um die Liebe tatsächlich zu begreifen, dürfen wir sie nicht allein als einen körperlichen Erregungszustand verstehen, sondern noch als etwas ganz anderes: als eine Anspruchshaltung an den anderen und an uns selbst. Denn da wir – im Unterschied vielleicht zu Schimpansen – wissen, dass wir lieben, benehmen wir uns auch wissentlich wie Liebende.
Wir erheben und überhöhen den anderen und uns und begeben uns gemeinsam in einen Abenteuerfilm, bei dem uns völlig klar ist, dass wir darin mitwirken. Und die Illusion, in die wir uns dabei willentlich begeben, ist die Vorstellung, dass es die Liebe tatsächlich gibt – so als wäre sie etwas ganz Reales, etwas geradezu Gegenständliches, eine Sache, die man gewinnen und verlieren kann; etwas, das wie ein Dunst im Raum schwebt, wenn Liebende darin umhergehen.
Von der Liebe und den Tischen
Unsere Sprache ist seltsam. Sie ist nicht besonders logisch und auch nicht besonders ordentlich. Doch noch jeder Philosoph, der sie aufräumen wollte, um damit der Wahrheit näher zu kommen, ist gescheitert. Der Grund
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