Liebe
entsprechen nicht den biologischen Klischees.
Im Deutschland der letzten 40 Jahre sind die sexuellen Möglichkeiten rasant gestiegen – die Anzahl der Kinder sinkt. Einen solchen Vorgang kann nur verstehen, wer den Menschen als ein »Kulturwesen« begreift. Zu diesem Begriff, den der Anthropologe Arnold Gehlen (1904-1976) in den frühen 1950er Jahren geprägt hat, müssen wir also wieder zurück. Ein Kulturwesen zu sein, bedeutet eine ganze Menge: Kulturwesen treffen in ihrem Leben nicht mit Genen zusammen, auch nicht mit Emotionen oder Gefühlen, nicht einmal mit Gedanken. Sie treffen auf andere Kulturwesen. Kulturwesen sagen zu sich »Ich«. Das heißt
sie haben eine (ständig wechselnde und diffuse) Einstellung zu sich selbst und zu anderen. Sie können ihre Gefühle deutlich zeigen oder verbergen, sie können jemanden täuschen und belügen. Sie können etwas erfinden, sich selbst täuschen, und sie können Verunsicherung erfahren. Sie spielen nicht nur eine soziale Rolle, sondern viele verschiedene. Sie können gegensätzliche Interessen und einander widerstreitende Gefühle in einer Person vereinigen. Und all diese Dinge können uns bei anderen Menschen anziehen oder abstoßen.
Liebe unter Kulturwesen bedeutet: Begehren, Sichverlieben und Lieben sind nicht nur eine Frage des mesolimbischen Systems im Zwischenhirn. Sie sind auch eine Frage unseres ganz persönlichen Verhältnisses zu uns selbst. Wir reagieren auf den anderen und finden Freude und Erfüllung daran, jemand anderen zu erregen, zu faszinieren oder glücklich zu machen. Unsere Interessen sind nicht schablonenhaft genetisch-egoistisch, sondern wir spielen mit unseren Partnern und Sexualpartnern ein Gesellschaftsspiel, bei dem wir uns im Blick des anderen spiegeln. Die Billardkugel unserer Ausstrahlung prallt von den Blicken der anderen ab wie von einer Bande. Unser ganzes Leben, unsere Sexualität, unsere Bindungen und Abneigungen, unser Selbstbild und Selbstwertgefühl erhalten wir auf diese Weise »über Bande« zugespielt.
Menschen sind eine viel interessantere Spezies, als die evolutionären Psychologen es uns glauben machen wollen. Nicht jedes Weibchen sucht eine gut gefüllte Speisekammer, und nicht jedes Männchen wünscht sich nichts sehnlicher, als jede gebärfähige Frau auf der Straße zu begatten und seine restlichen Vorräte auf die Samenbank zu tragen. Viele Männchen wie Weibchen ziehen die weniger perfekte der vollsymmetrischen Erscheinung vor, sei es aufgrund individueller Vorlieben oder erst recht: aus Liebe!
Das Schöne im menschlichen Leben ist, dass wir uns nicht auf Instinkte bei uns und bei anderen verlassen können. Mit anderen Worten: Wir wissen nur selten sehr genau, was der andere
will. Und das ist gut so. Wie unendlich langweilig wäre unser Leben, wenn wir unser Gegenüber instinktsicher zu jeder Zeit einschätzen könnten! Stattdessen aber sind wir gezwungen, ein unendliches Spiel zu spielen: das Spiel des Deutens.
Zum Beispiel in der Sexualität. Ein markiger Hirsch scheint der Hirschkuh zu bedeuten, dass er der Richtige ist. Instinktsicher weiß sie, dass es für sie gut ist, sich sexuell auf ihn einzulassen. Bei Menschen hingegen ist das komplizierter. Eine schöne Frau mit günstiger Fettpolsterverteilung mag uns attraktiv erscheinen und ebenso ein großer breitschultriger Mann. Doch wenn das Lächeln nicht überzeugt und gleich der erste Satz völlig daneben ist, schwindet unser Interesse in Windeseile dahin. Noch wichtiger ist, dass vermeintlich gute Gene noch keinen Deut verraten, wie es um das sexuelle Einfühlungsvermögen, die erotische Phantasie und Kreativität, die Sinnlichkeit und das Selbstbewusstsein im Bett bestellt ist. Von Überraschungen weiß hier wohl jeder zu berichten. Es gibt sanfte, einfühlsame Männer mit kantigen Gesichtern und buschigen Augenbrauen, und es gibt schmalbrüstige, schmächtige Machos. Und gewiss nicht jede schöne Frau ist ein Erlebnis im Bett und umgekehrt.
Wichtiger noch als unsere ohnehin immer subjektiv bewerteten sexuellen Qualitäten ist etwas anderes: Sex dient bekanntlich nur selten der Fortpflanzung, aber eben auch nicht ausschließlich der Triebbefriedigung. Als Pointe im Bett fällt den Oxytocinisten neben der Lust gerade noch die Bindung danach ein, schmusen und kuscheln. Was sie dabei völlig übersehen, ist etwas, für das es kein Hormon gibt, allenfalls eine allgemeine unspezifische Erregung im mesolimbischen System: die Selbstbestätigung!
Sex ist ein
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