Liebe
verschlimmerte sich noch, als er im Selbstversuch die Droge Meskalin ausprobierte. Er wurde depressiv, bekam Panikattacken und litt an Wahnvorstellungen. In dieser Verfassung arbeitete er zugleich fieberhaft an seinem Aufsatz. Seine gefühlte Distanz zur verhassten Umwelt in Le Havre motivierte ihn herauszufinden, auf welche Weise der Mensch um sich weiß und wie er seine Vorstellung von sich selbst ausbildet. In einer Skizze zur Theorie der Emotionen befasste er sich dabei mit William James’ Idee, dass unsere Gefühle nichts weiter seien als der Ausdruck von Erregungen der Nerven.
Sartre war völlig anderer Meinung. Etwas zu Unrecht warf er James vor, das Psychische unzulässig auf das Physische zu reduzieren. Und an den englischen Hirnforscher Charles Scott Sherrington, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts wichtige Details der Elektrophysiologie des Gehirns erforscht hatte, richtete er die Frage: »Kann eine physiologische Erregung, was sie auch sei, über den organisierten Charakter des Gefühls Aufschluss geben?« 68 Für Sartre war die Sache klar: Sie kann es nicht! Ein Gefühl ist mehr als die Summe seiner körperlichen Erregungen im Zwischenhirn.
Den gleichen Einwand kann man auch heute noch gegen die Oxytocinisten ins Feld führen. In Die Transzendenz des Ego geht Sartre davon aus, dass wir es in unserer Psyche nie mit körperlichen
Erregungen in Reinform zu tun haben, sondern immer mit gewussten Emotionen und gewussten Gefühlen. Um zum Beispiel Heimweh zu haben, muss ich wissen, dass ich Heimweh habe, und ich muss wissen, was Heimweh ist. Ansonsten spüre ich nur eine diffuse Schwermut.
Unser bewusstes Denken interpretiert unsere körperlichen Erregungen und bringt sie in eine Form. Das Ärgerliche dabei ist: Um über eine Empfindung sprechen zu können, muss ich darüber reflektieren. Und das wiederum bedeutet, dass ich zu meiner Empfindung auf Abstand gehen muss. Auf diese Weise sind unsere Empfindungen und unsere Interpretation der Empfindungen nie ganz identisch. Unser Bewusstsein bestimmt, wer und wie ich bin, nämlich so, wie ich mich selbst interpretiere. Was wir für unser Ich halten, ist eine Erfindung unserer Reflexion auf uns selbst. Denn ein vorbewusstes Ich ist uns nicht zugänglich. Mit Sartre gesagt: »Das Ego ist nicht Eigentümer des Bewusstseins, es ist dessen Objekt«. Sartre zog daraus den Schluss, dass der Mensch sich unausgesetzt selbst neu erfindet. Das »Ich« ist ein Spielball unserer Selbstinterpretation und »für das Bewusstsein nicht gewisser als das Ich anderer Menschen«. 69
Gerade diese Ungewissheit macht den Menschen nach Sartre frei. Aber muss man nicht sagen, dass es ihn gleichzeitig auch unfrei macht? Denn wenn ich quasi von Natur aus nichts bin, so bin ich abhängig vom Urteil anderer Menschen. Nur im Austausch und im Vergleich mit den anderen entdecke und erkenne ich, was ich bin. Wären wir allein auf der Welt, hätten wir vermutlich gar kein Ich. Denn wer und wie ich bin, weiß ich vor allem dadurch, wer und wie ich nicht bin.
Unser Selbst und unser Selbstwertgefühl speisen sich also aus der Selbstbestätigung. Die Eigenschaften, die wir uns zuschreiben, die Stärken und Schwächen, die Vorstellungen von unserer Attraktivität, unserem Charme, unserer Wirkung verdanken sich dem sozialen Schach mit unserer Umwelt. Und kein Mensch kann vollständig daraus ausbrechen, dass er sich vergleicht. Wir
beobachten andere, und wir beobachten dabei, wie wir beobachtet werden. Diesen komplizierten Vorgang nannte Sartres Anreger Edmund Husserl »reterierte Empathie«: das auf sich selbst zurückbezogene Mitgefühl. Die Fähigkeit des Menschen auf diesem Gebiet erreicht schwindelerregende Höhen und dürfte in dieser extremen Form im Tierreich einzigartig sein: Ich kann verstehen, dass Sie verstehen, dass ich Sie verstanden habe.
Wir wissen, wer wir sind, weil wir uns von anderen unterscheiden. Unsere Talente, Fähigkeiten und positiven Eigenschaften fallen uns auf, weil wir sehen, dass andere Menschen sie nicht oder in geringerem Maße haben. Das Gleiche gilt auch für unsere Eigenheiten und Schwächen. Menschen reagieren auf uns anders als auf andere Menschen. Aus all dem bildet sich unser Wissen um uns selbst, unser Selbst bild . Es ist nichts als der vielfach gefilterte Widerschein des Bildes, das andere von uns haben. Dabei genießen wir insofern einen Freiraum, als wir die Urteile über uns unterschiedlich gewichten. Das Bild, das uns nahestehende Menschen von uns
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