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Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
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ausgesprochen weitläufiges Areal komplizierter Psychologie. Und das Bild, das uns unser Gegenüber zuspiegelt, ist vermutlich mehr als die halbe Miete. Für fast alle Menschen ist es ausgesprochen erregend, zu erregen und erregend gefunden zu werden – eine ganz spezifische Qualität, die Grauen Würgern
und Gladiatorfröschen vermutlich eher fremd ist. Auch Sex ist nicht nur ein persönlicher Erregungszustand, sondern ebenso Selbsterfahrung über Bande. Ob ich mich als besonders männlich oder weiblich erfahre, ist nicht nur eine Frage meines Hormonspiegels. Mindestens ebenso wichtig sind die Reaktionen, der Blick oder die Worte des anderen.
    Wenn wir Sex haben, spielen wir insofern Billard, als dass der andere uns ein Bild unser selbst zurückgibt. Der besondere Reiz, der Sex mit einem Partner so viel spannender und erfüllender macht als alle Selbstbefriedigung, ist dieses Spiel mit der Empathie. Wir versetzen uns in den anderen hinein und gelangen auf diese Weise wieder zu uns selbst zurück. Unser Gefallen an der Lust des anderen ist nicht die reine Selbstlosigkeit, kein uneigennütziger Dienst, sondern auch psychische Befriedigung über Bande – jedenfalls dann, wenn dieser Sex erfüllt sein soll und nicht nur ein Spiel auf ein Tor.
    Der menschliche Sex kennt ungezählte Spielarten, vor denen evolutionäre Psychologen die Hände vors Gesicht schlagen müssen. Was immer man über den Menschen denken mag, einen Superlativ wird ihm keiner nehmen können: Er ist das Tier mit der bei weitem interessantesten Sexualität. Die Gründe dafür finden sich ausschließlich in seiner Kultur; was auf dem Pavianfelsen geschieht, ist dagegen todlangweilig. Menschen inszenieren ihr sexuelles Rollenverhalten nach Regeln der Kunst. Sie spielen Rollen, aber sie spielen auch mit ihren Rollen. Domina-Phantasien passen in kein Konzept evolutionärer Psychologen, kein Fetischismus hat darin Platz. Und orale Befriedigung irritiert schon bei Menschenaffen. Überall in der menschlichen Sexualität finden wir biologisch sinnlose Abweichungen von der Norm. Allein manche Kirchen halten der Evolution noch die Stange gegen die entfesselte Kultur. Doch nicht nur in vermeintlich degenerierten Industriestaaten, fast überall in der Welt, in Entwicklungsländern, in Wüsten, am Polarkreis und im Regenwald, ist die vermeintlich biologische Norm keine Norm.

    Der wichtigste Grund dafür dürfte sein, dass wir in der Lage sind, mit unserer eigenen Psyche zu spielen. Der Mensch ist ein bewundernswert vorstellungsbegabtes Wesen, und er macht davon gerne Gebrauch. Die Unterscheidung von I, dem Bewusstseinsstrom, und Me, unserem Selbst, die William James vor über 100 Jahren einführte, war nur der Anfang des Versuchs, die beteiligten Mitspieler im Gehirn dingfest zu machen. Sigmund Freud unterschied in den 1920er Jahren drei Instanzen: das Es , das Ich und das Über-Ich. Als dunkler unbewusster Antrieb ist das »Es« die Schattenausgabe von James’ Bewusstseinsstrom. Und das »Über-Ich« ist die gouvernantenhafte Karikatur des gesellschaftlich geprägten Selbst. Dazwischen pendelt nach Freud das »Ich«, ein hilfloser Diener zweier überaus gestrenger Herren. Obwohl Freud weder stolz darauf noch glücklich mit seinem Modell war, wurden die drei Instanzen weltberühmt. Tausende von Psychoanalytikern trugen sie von der Couch in die Köpfe anderer Menschen hinein. Die Hirnforschung dagegen kennt heute sieben bis neun »Ich-Zustände«, die sich in unserem Fühlen und Denken ergänzen, befruchten, durchkreuzen und überblenden. Aus einem Mühle-Spiel zu zweit, wie bei James, ist heute ein mehrdimensionales Computerspiel mit zahlreichen Mitspielern geworden.
    Wenn wir mit jemand anderem Sex haben, geraten völlig verschiedene »Ich-Zustände« in Erregung. Mein »Körper-Ich« wird von so starker Hormonzufuhr überflutet, dass mein »Ich als Erlebnissubjekt« die Situation als höchst erregend empfindet. Mein »autobiografisches Ich« mag sich daran erfreuen, dass ich tatsächlich mit diesem faszinierenden anderen Menschen in genau diesem Augenblick das Bett oder den Feldweg teile und diese oder jene sexuelle Handlung vollführe und erlebe; während mein »moralisches Ich« nun immer wieder dazwischenfunkt und mich daran erinnert, dass das, was ich tue, falsch ist, weil ich oder der andere oder beide anderweitig gebunden sind.
    So oder so ähnlich können psychische Prozesse beim Sex ablaufen,
ohne dass man das Schema mit den Ich-Zuständen allzu sehr

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