Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
Vom Netzwerk:
übertreiben sollte. Denn selbst wenn man heute vage weiß, welche Gehirnregion mit welchem Ich in Verbindung gebracht werden kann – man sollte nicht überhören, wie Gilbert Ryle empört an den Sarg klopft. Auch unser »Körper-Ich«, das »Ich als Erlebnissubjekt«, das »autobiografische Ich« und unser »moralisches Ich« bleiben Postkutschen auf dem Flughafen.
    Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist: Sex zu haben und das gleichzeitige Wissen darum, dass man Sex hat, sind nicht das Gleiche! In einer Situation zu sein und gleichzeitig Beobachter der Situation zu sein macht den Reiz einer sexuellen Situation aus. Die bekannte Weisheit, dass man beim Sex »den Kopf herauslassen« sollte, gilt nur eingeschränkt. Unsere Gedanken sollen uns nicht ablenken oder behindern – aber sie sollen nicht völlig verschwinden. Ein berauschter Zustand unter Alkohol wird oft als positiv empfunden, solange wir noch viel von unserer Umwelt mitbekommen; ein Vollrausch in völlig unzurechnungsfähiger Umnachtung dagegen ist in jeder Hinsicht reizlos.
    Das komplizierte Zusammenspiel verschiedener Eindrücke und Perspektiven macht unsere Sexualität erst richtig lustvoll – oder lustlos. Der stärkste Reiz des Fremdgehens bei Frauen und Männern dürfte nämlich weder die Suche nach optimalen Genen sein noch ein ungezügelter Vermehrungsdrang. Es ist die Suche nach einem frischen neuen Bild von sich selbst, aufregender, verführerischer und attraktiver als das, was uns der Partner einer Langzeitbeziehung nach Jahren der größtmöglichen Vertrautheit noch zugesteht. So wie Menschen sich über unverdiente, oder zumindest zweifelhafte, Komplimente stets mehr freuen als über unzweifelhaft verdiente – so schmeichelt uns der unwissende fremde Blick oft mehr als der wissende vertraute. Je weniger komplex die Beziehungspsychologie mit ihren berechenbaren Rollen und festgelegten Bildern ist, je weniger Schillerndes man also aneinander wahrnimmt, umso höher steigt das Risiko des Fremdgehens. Die Wahrscheinlichkeit des Vollzugs steht und
fällt dann nur noch mit der persönlichen oder gesellschaftlichen Moral, dem Anspruch und der Gelegenheit.
    Die Bedeutung des reinen Triebes für unser Sexualverhalten wird ebenso leicht überschätzt wie der emotionale Impuls für die Liebe. Zwar löst jeder Sexualtrieb Lust aus, aber nicht jede sexuelle Lust folgt schematisch den Vorgaben des Triebes. Die Lust hat ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen. Nur so etwa ist es denkbar, dass wir mit dem einen Partner Dinge mögen, die wir bei anderen unangenehm, albern oder sogar abstoßend finden. Gewiss ist dies auch eine Frage von Geruch und Chemie. Aber eben genauso ist es eine Frage der ganz persönlichen sinnlichen und gedanklichen Spannung zwischen zwei Menschen. Das positiv gespiegelte Selbstbild ist unser wichtigstes Lebenselixier, und die Selbstbestätigung in der Lust und im Blick des anderen sein begehrtes Aroma. Was für die Sexualität gilt, gilt erst recht für unsere Liebe: Worauf es uns tagtäglich ankommt, ist das Bild, das ein ganz besonderer Mensch von uns hat.

Mein Bild im Auge des anderen
    Der junge Gymnasiallehrer in Le Havre interessierte sich für Film und Jazz. Seine Kollegen mieden ihn als arroganten Wichtigtuer. Es war ihm egal. Doch dass die Verlage seine Aufsätze und Bücher nicht drucken wollten, verletzte ihn sehr. Immerhin: Seine Schüler mochten ihren 1,56 kleinen Lehrer mit der dicken Brille, seinen scharfen Geist und seine große Leidenschaft, mit der er ihnen die Philosophie nahe brachte.
    Jean-Paul Sartre war 31 Jahre alt, als sein Aufsatz Die Transzendenz des Ego 1936 in einer philosophischen Fachzeitschrift erschien. Zuvor hatte er sich mit Sigmund Freud beschäftigt und mit der großen Bedeutung des Unterbewusstseins für unser Leben. Von den zeitgenössischen Philosophen Henri Bergson, Edmund
Husserl und Martin Heidegger lernte er, die Sinnlichkeit des Denkens zu verstehen. Alle drei hatten sie die Wahrnehmung ins Zentrum ihres Denkens gerückt. Wie die Wirklichkeit ist, kann nur begriffen werden, wenn man versteht, was sie für uns ist. Die Art und Weise, wie wir die Welt sinnlich erfahren, entscheidet darüber, wie wir denken. Und so wie wir denken, stellt die Welt sich uns dar.
    Sartres Welt stellte sich ihm traurig dar. Das Gymnasium in Le Havre war ein armseliger Ort für einen Mann wie ihn. Er fühlte sich fremd und einsam, und die meisten Menschen seiner Umgebung ekelten ihn an. Sein Zustand

Weitere Kostenlose Bücher