Liebe
Versuchen mit Schweinsaffen entdeckten sie so genannte Spiegelneurone. Ein Affe bekam regelmäßig eine Nuss, nach der er greifen musste. In einem zweiten Versuch aber durfte der Affe nur hinter einer Scheibe zuschauen, wie ein Mensch sich an seiner statt die Nuss griff. Spektakulär daran war, dass der Affe beide Male die genau gleiche Reaktion im Gehirn zeigte. Ganz offensichtlich versetzte er sich nahezu vollständig in den Handlungsablauf des Menschen hinein. Die Nervenzellen, die ihm dies ermöglichten, gingen als Spiegelneurone in die Wissenschaft ein.
Der Weg von den Spiegelneuronen zu Ernst Jandl ist nicht sehr weit. Die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, tat unseren Vorfahren vermutlich gut. Mindestens führte sie nicht zum raschen Aussterben. Wer die emotionalen Zustände anderer Hordenmitglieder deuten, bewerten und schnell darauf reagieren kann, ist sicherlich nicht im Nachteil. Unbedingt aber förderte das Mitgefühl den weiteren Ausbau der Sensibilität vom Sinnlichen ins Geistige. Von einem Menschen, der meint, uns zu lieben, erwarten wir sowohl ein intuitives Verständnis wie ein absichtliches, also bewusstes Einlassen auf unsere Befindlichkeit. Und beides fördert mit der Bedeutung für den anderen unsere eigene Bedeutsamkeit.
Die Fähigkeit zum Mitgefühl und die Erwartung, Anteilnahme und Mitgefühl eines anderen zu bekommen, sind wichtige Bausteine der Liebe. Schenkt man manchen psychologischen Ratgebern Glauben, so ist es mit diesem Bindemittel fast schon getan. Tatsächlich aber ist es nur eine Grundvoraussetzung und nicht schon das Einmaleins der Liebe.
Lieben und in bindender Gemeinschaft mit einem Partner leben zu wollen, ist nicht unbedingt das Gleiche. Und in den zahlreichen Spielarten der Liebe ist vieles möglich: das Verlangen nach negativer Zuwendung zum Beispiel oder die masochistische
Lust an irrealen Hoffnungen auf Zuwendung. Zu den immer häufiger werdenden Fällen in unserer Gesellschaft zählen Menschen, die glauben, nur dann lieben zu können, wenn sie sich auf einen anderen nicht allzu sehr einlassen. Sie befürchten, dass der- oder diejenige dann unweigerlich an Reiz und Ausstrahlung verliert. Und wie viele unglücklich Verliebte wollen nie einem Club angehören, der Menschen wie sie als Mitglieder aufnimmt? Sie verlieben sich stets in jemand Unerreichbaren und verachten unweigerlich die, von denen sie wirklich begehrt werden. Ob es sich bei all dem um Störungen handelt oder schlicht um Spielarten, darauf kommen wir noch zurück.
Ein zweiter Punkt betrifft die Frage, ob es eigentlich ausschließlich Mitgefühl und Bindung ist, was wir bei einem Liebespartner suchen. Auch hier gibt es Anlass zur Kritik an vielen Büchern über die Liebe. Zuverlässigkeit, Einfühlungsvermögen und Harmonie werden nämlich gerne dramatisch überschätzt. Bezeichnenderweise suchen wir uns nicht immer gerade den liebsten Menschen aus, um ihn zu lieben. Mitunter verlieben wir uns sogar in Menschen von höchst zweifelhaftem Charakter und können sie auch über lange Zeit lieben. Unsere sexuellen, emotionalen und psychischen Motive für die Liebe marschieren offensichtlich nicht immer im Einklang. Aber wo wollen sie eigentlich hin?
Liebeskarten
Um es gleich zu sagen: Die wenigsten Frauen sind mit Märchenprinzen verheiratet und die wenigsten Männer mit Märchenprinzessinnen. Wir sind, vorsichtiger gesagt, häufig noch nicht einmal mit unseren Wunschpartnern zusammen. Die wenigsten Paare finden ihre Langzeitpartner wirklich toll; man kommt halt miteinander aus. Irgendetwas passt – aber das ist natürlich
nicht Liebe, sondern allenfalls die Erinnerung daran; mit anderen Worten: Partnerschaft!
Das Leben ist kein Wunschkonzert, und die Auswahl ist begrenzt. In der Schulzeit philosophierte ich mit einem Freund darüber, wie man es bloß anfangen sollte, die Richtige im Leben zu finden. Woran würde man sie erkennen? Und noch schlimmer: Würde sie einen selbst ebenfalls als den Richtigen erkennen? Wir hatten dabei die Vorstellung, dass es mindestens eine Richtige geben musste. Aber vielleicht eben nur eine Einzige. Wo war sie? Lebte sie in Uruguay, in der Ukraine oder in Usbekistan? Würden wir ihr überhaupt begegnen? Vielleicht hatte sie, die optimale aller denkbaren Lebensgefährtinnen, ja in Wien gelebt im 19. Jahrhundert und war schon seit neunzig Jahren tot?
Wir waren phantasiebegabte Jungs, und unsere Chancen beim anderen Geschlecht erschienen uns dürftig genug, als
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