Liebe
Person im falschen Moment.
Meine Mutter war in der Midlife-Crisis. Die war damals gerade erfunden. Am Strand von Calvi fühlte sie sich zum ersten Mal alt. Unsere unfreiwilligen Hotelgefährten wichen uns derweil kaum von der Seite. Einsamkeit macht gesellig: ein untersetzter Kantor aus Porz und der kahlköpfige Stadtdirektor einer Kreisstadt im Sauerland kurz vor der Pensionierung, samt Gattin Hildegard. Beim Abendessen beeindruckte der Stadtdirektor den Kantor mit sauerländischen Verwaltungsweltweisheiten. Tagsüber im Liegestuhl aber las er Erich Fromm: Die Kunst des Liebens. Zwischendurch betätigte er sich als Voyeur und hielt meiner Mutter Vorträge über die hohe Schule des intelligenten Flirtens. Meine Mutter war Feministin und nicht besonders gut
drauf. Sie war wenig beeindruckt. Intelligent zu flirten, meinte der Stadtdirektor, bedeute: »nicht gleich zur Sache zu kommen«. Mit seinen Blicken am Strand kam er schneller zur Sache als mit seinen Worten. (Ich gehe davon aus, dass der betreffende Herr nicht mehr lebt, ansonsten, falls er dies liest: Schöne Grüße!)
Ich gab Erich Fromm die Schuld. Für die ganze Misere. Schon der Name erinnerte mich an Kirche und Kondome. Auf dem Autorenfoto im Buch sah er aus wie der Stadtdirektor, und selbst der Vorname war ähnlich. Jahrzehntelang hielt ich das Buch für eine Flirtschule für ältere Herren. Auch meine Mutter mochte das Buch nicht, sie fand es »esoterisch«. Vermutlich deshalb wurde es auch so populär. Die Kunst des Liebens ist das erfolgreichste Sachbuch über die Liebe aller Zeiten. Fünf Millionen Exemplare wurden weltweit verkauft. Aber es ist weder eine Flirtschule noch Esoterik. Nun, was ist es dann? Was wollte Erich Fromm uns sagen?
Erich Pinchas Fromm, geboren 1900 als Sohn eines Obstweinkaufmanns in Frankfurt am Main, entstammt einer sehr religiösen jüdischen Familie. Schon in früher Jugend begeistert sich der kleine unattraktive Junge für die jüdische Mystik. In der Stadt findet er Anschluss an viele andere junge jüdische Intellektuelle wie Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal und Martin Buber. Nach dem Abitur studiert Fromm Jura in Heidelberg. Durch neue Freunde beeinflusst, träumt er den Traum von einer »jüdischen« Synthese von Sozialismus, Mystik und Humanismus. Nach der Promotion 1922 kommt noch die Psychoanalyse Sigmund Freuds hinzu, eine ganz neue faszinierende Herausforderung.
Fromm sucht nach einem großen Wurf, um die zersplitterte Welt der 1920er Jahre wieder unter einer humanistischen Idee zu vereinen. Gleichzeitig beginnt er eine psychoanalytische Ausbildung in München und in Berlin. 1926 heiratet er die gleichaltrige Psychiaterin Frieda Reichmann und eröffnet eine psychoanalytische Praxis in Berlin. Karl Marx und Sigmund Freud
werden ihm wichtiger als seine früheren theologischen Heilserwartungen. Fromms neues Ziel ist eine nüchterne analytische Sozialpsychologie. Er wird Mitgründer des »Frankfurter Psychoanalytischen Instituts«, untergebracht in den Räumen des berühmten »Instituts für Sozialforschung«. Er hält Vorlesungen in Frankfurt und praktiziert therapeutisch in Berlin. 1932 trennt er sich von Frieda Reichmann und flüchtet zwei Jahre später vor dem Naziregime in die USA.
Anders als vielen anderen deutschen Intellektuellen gelingt es Fromm überraschend gut, in New York Fuß zu fassen. Er eröffnet eine psychoanalytische Praxis und hält Gastvorlesungen an der Columbia University. Am Institut für Sozialforschung, das ebenfalls nach New York übergesiedelt ist, kommt es 1938 zum Eklat. Theodor W. Adorno, drei Jahre jünger als Fromm und der kommende Stern des Instituts, ekelt seinen Konkurrenten raus. Adorno hatte Fromm nie für eine große Leuchte gehalten. Jetzt sieht er in ihm einen naiven Populärphilosophen.
Die meisten Mitglieder des Instituts kehren bei Kriegsende nach Deutschland zurück. Fromm bleibt in den USA, wird amerikanischer Staatsbürger und hält Vorlesungen in Vermont und in Yale. In rascher Abfolge bringt er seine Ideen zu Papier. Er schreibt Bücher über den Nationalsozialismus, über Psychonalyse und Ethik sowie über Psychoanalyse und Religion. Die Theologie, die Fromm in den 1920er Jahren fast schon zu den Akten gelegt hatte, gewinnt wieder an Bedeutung. 1944 hatte er die tief religiöse Fotografin Henny Gurland geheiratet, die in einer dramatischen Reise mit Walter Benjamin aus Deutschland geflohen war. Eine Folge dieser strapaziösen Reise war eine rheumatische Arthritis.
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