Liebe
Wegen Hennys Krankheit zieht Fromm 1949 nach Mexiko. Er wird außerplanmäßiger Professor für Psychoanalyse in Mexico City.
Als Henny 1952 stirbt, stürzt sich Fromm in eine Schrift, die den Kapitalismus als ein Geschwür beschreibt, ein krankheitserzeugendes System. Fromms Hass lässt ihn in die Sozialistische
Partei der USA eintreten. Überraschend schnell findet er eine neue Lebensgefährtin. Ein Jahr nach Hennys Tod heiratet er die zwei Jahre jüngere Annis Freeman, eine groß gewachsene, attraktive Amerikanerin. Mit ihr siedelt er um nach Cuernavaca, in ein selbst entworfenes Haus mit großem Garten in einer Prominentensiedlung. Der neu Verliebte beschäftigt sich mit Zen-Buddhismus und schreibt sein großes Erfolgsbuch: Die Kunst des Liebens.
Den größten Teil seines schmalen Buches verwendet Fromm auf eine Kritik des wirtschaftlichen Denkens. Der Kapitalismus mache den Menschen oberflächlich und schlecht. Zweihundert Jahre zuvor hatte der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau ein Buch Über die Ungleichheit unter den Menschen geschrieben. Seine Ansicht war: Der Mensch ist gut, aber die Zivilisation verdirbt ihn. Rousseaus Einfluss war gewaltig. Er ist der Vater aller »Beschädigungstheorien«. Beschädigungstheoretiker gehen davon aus, dass die gesellschaftlichen Umstände den Menschen daran hindern, seiner wahren Natur gemäß zu leben. Dementsprechend suchen sie nach dem »wahren«, dem »eigentlichen« und dem »freien« Menschen hinter den gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Zwängen. Von der christlichen Erbsünde über Rousseau und die deutsche Romantik zu Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Theodor W. Adorno und Erich Fromm führt eine direkte Linie. Adorno nannte die Minima Moralia, seine berühmte Sammlung von Einfällen und Notizen, im Untertitel »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«.
Erich Fromm und Theodor W. Adorno waren keine Freunde, aber sie schöpften ihre Theorien aus denselben Quellen: dem Marxismus und der Psychoanalyse. Letztere kommen beide darin überein, dass sie den Menschen durch die gegenwärtige Gesellschaft behindert sehen. Der Mensch ist unfrei, insofern ihn entweder die Wirtschaft oder die vorherrschende Moral daran hindern, sich zu entfalten. In der »Kritischen Theorie« kommen Marxismus und Psychoanalyse zusammen. Danach steckt
die Wurzel allen Übels im Kapitalismus. Weil der Kapitalismus den Menschen unterdrückt, führt dies zu allen möglichen gesellschaftlichen Deformationen. Mit anderen Worten: Der Mensch ist psychisch unfrei, weil er wirtschaftlich unfrei ist. Überall herrschen Unterdrückungsmechanismen und Vorurteile. Adorno nannte dies die »Verblendungszusammenhänge«.
Das Schöne an diesen Verblendungszusammenhängen für den Philosophen ist, dass er sich selbst außerhalb davon sehen kann. Umso schlauer und erleuchteter kann sich fühlen, wer die Dummheit der anderen durchschaut. Dieser schöne Effekt ist eines der Erfolgsgeheimnisse der Kritischen Theorie. In den 1960er Jahren wurde sie zu einer Art Religion für Intellektuelle: Ihr Kult war die Analyse des massenhaften falschen Lebens.
Wenn Adorno recht hatte, dann gab es zwar »kein richtiges Leben im Falschen«, kein echtes Lebensglück also im Kapitalismus. Aber es gab immerhin die Möglichkeit, das falsche Leben der anderen zu durchschauen. Die Formel für die Zukunft bestand darin, das herrschende »System« der Wirtschaft und Politik zu »überwinden«. Nach Karl Marx bestimmte das Sein das Bewusstsein. Und wer das »Sein«, die gesellschaftlichen Verhältnisse, kurierte, der therapierte damit zugleich das Bewusstsein der Menschen. Die politischen Streiter von 1968 verstanden sich demnach als beides: als Revolutionäre und als Therapeuten.
Der gleiche Gedanke findet sich auch bei Erich Fromm. Das deformierte Habenwollen des kapitalistischen Konsumenten müsse therapiert werden zu Gunsten eines einzig wahren und erstrebenswerten Seins. Während Adorno sich nach und nach von Freuds Psychoanalyse verabschiedete, betrieb Fromm seine Kapitalismuskritik konsequent als Psychohygiene. Der aufgeschlossene und sensible Mensch müsse sich frei machen von weltlichen Bedürfnissen. Nur so wird aus dem Konsumenten ein Liebender. Denn eine liebende Haltung zur Welt sei das Gegenteil einer gierigen: Der Liebende will nichts haben, er respektiert, was ist, und er gibt, statt zu raffen.
Erich Fromm starb 1980 als wohlhabender Mann in Muralto am Lago Maggiore. Neben seinem Domizil im Tessin
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