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Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
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Weihnachten freuen könnte wie noch ein paar Jahre zuvor. Alles, was mir aufregend und wertvoll erschienen war, kam mir inzwischen recht banal vor. Meine Mutter bestätigte dies. Mein Gefühl für Weihnachten würde nicht mehr zurückkommen, ebenso wie viele andere starke kindliche Gefühle. Aber, fügte sie versöhnend hinzu, man würde als Erwachsener dafür entschädigt: durch die Liebe!
    Bedauerlicherweise geht es vielen Liebenden mit ihrer Liebe auch so wie mir als Kind mit Weihnachten. Der Zauber, den man hineinprojiziert hat, löst sich mit der Zeit auf. Und was vorher »heilig« war, wird irgendwann Routine. Der Verlust ist so dramatisch wie bekannt. Milliarden von Menschen haben ihn erlitten. Und erst seit wenigen Jahrzehnten gibt es eine wachsende Flut von Ratgebern, die einem die Tricks anpreisen, wie man der Abwärtsspirale entgehen soll. Geht es nach ihnen, so ist die Abnahme des Zaubers und das Schwinden der gemeinsamen Wirklichkeit weder die Folge sinkender Phenylethylamine in unserem Blut noch ein Gebot der kritischen Vernunft, die sich nach einer Weile glücklicher Verwirrung wieder besinnt. Langfristige Liebe ist lernbar, so lautet das Versprechen. Stimmt das?
    Bevor wir uns im nächsten Kapitel damit beschäftigen, möchte ich noch einmal kurz zusammenfassen, bis wohin wir gekommen sind: Menschen sind Lebewesen mit ganz normalen tierischen Emotionen. Unsere Begabung zu komplexen Vorstellungen jedoch macht aus vielen unserer Emotionen diffuse, beflügelnde,
deprimierende, schillernde Gefühle. Diese Gefühle entsprechen unseren Emotionen nicht im Verhältnis von eins zu eins. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: Wie Schachter gezeigt hat, haben wir unsere Emotionen nicht einfach, sondern wir interpretieren sie bis hin zu möglichen Ummünzungen oder »Fehlattributionen«. Und zweitens setzt uns unsere Sprache bei der Deutung unserer Gefühle Grenzen. Wie Ryle erkannt hat, machen wir aus flüchtigen Erregungen allgemeine Substantive. Deshalb reden wir von der Liebe, als wäre sie ein realer Gegenstand, wie etwa ein Tisch, und nicht ein flüchtiges Konstrukt unserer Vorstellungskraft.
    Was uns von unserer Biologie, unseren animalischen Emotionen, Instinkten und unserem chemischen Haushalt emanzipiert, ist unsere Selbstinterpretation. Eine Stufe höher ist es unser ganz persönliches Selbstkonzept, das darüber bestimmt, wie wir uns und andere interpretieren. Unsere gewusste Identität ist nicht gleich unserer biologischen Identität, und diese Kluft schafft sehr viel Spielraum – auch für die Liebe. Wen wir lieben, hat weit mehr mit unserem Elternhaus zu tun als mit einer biologischen Schönheitskonkurrenz. Nur in der Pubertät, in der unsere Selbsterkenntnis und unser Selbstkonzept noch auf sehr viel schwankenderem Boden stehen, als sie es ohnehin tun, spielt die größtmögliche Attraktivität des anderen unter Umständen eine Hauptrolle.
    Unsere Leidenschaften sind somit Erfahrung und Erfindung – zu einem wesentlichen Teil eine Erfindung aus unserer Kindheit wie eben fast alles, was mit unseren großen Gefühlen zusammenhängt. Wen wir sexuell begehren, hat maßgeblich auch etwas mit unseren Trieben zu tun, in wen wir uns verlieben weit mehr mit unseren Eltern und Kindheitserfahrungen, wen wir lieben schließlich ist sehr weitgehend eine Frage unseres Selbstkonzeptes.
    In gleicher Weise verläuft auch die Zunahme unserer Willensfreiheit. Unsere sexuelle Lust ist unserem Willen fast völlig entzogen;
wer uns erregt, suchen wir uns nicht aus. In wen wir uns verlieben, daran sind wir nicht ganz unbeteiligt, jedenfalls als erwachsene Menschen mit Erfahrung. Denn ob wir uns überhaupt auf jemanden näher einlassen, da haben wir – Liebeskarte hin oder her – durchaus die Möglichkeit des Ja oder Nein. Unsere Liebe dagegen ist bis zu einem gewissen Grad eine Sache unseres direkten Wollens.
    Die Frage ist nur: bis zu welchem Grad?

9. KAPITEL
    Arbeit am Schicksal
    Ist Lieben eine Kunst?

Erich Fromm, ein Stadtdirektor und die Liebeskunst
    Korsika, Sommer 1981: Ich war sechzehn und das erste Mal im Süden, in einem kleinen Hotel, versprengt in der Macchia. Wie alle 16-Jährigen war ich unglücklich verliebt, ein schulbuchmäßiger Fall von unerwiderter Liebe. Mein Hormonspiegel hatte einen ungeahnten Pegel angenommen; der Geruch der Wildkräuter rund ums Hotel brachte mich fast um. Das Schlimmste an diesem Urlaub aber war, dass ich ihn allein mit meiner Mutter machen musste. Eindeutig die falsche

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