Liebe
wichtig, die vorher unwichtig waren, aus Uninteressantem wird Interessantes. Wir öffnen uns in für uns selbst zuvor unvorstellbarem Maße, wenn auch, um uns später langsam wieder zu schließen. Es ist ein Vollbad der lustvollen Selbstinventur. In dem Film Der Stadtneurotiker sagt Woody Allen: »Was von meinen Frauen geblieben ist, sind die Bücher, sind Tolstoi und Kafka« – Autoren, mit denen er sich seiner Meinung nach sonst nie beschäftigt hätte. Das Lieblingsrestaurant dagegen, das vorher so wichtig war, so schön und so romantisch, ist nach der Trennung ein gern gemiedener Ort – man würde wohl nichts von der Romantik dort wiederfinden. Und ein frisch Verliebter, der mit seiner neuen Freundin in das gleiche Lieblingsrestaurant geht wie mit ihrer Vorgängerin, macht sich zu Recht verdächtig.
Der Clou daran ist, dass Liebende ihre Liebe für einzigartig halten, obgleich sie durchaus wissen, dass sie nicht die Einzigen sind, denen so etwas passiert. So verschieden eine jede Liebesbeziehung voneinander ist, so ähnlich sind doch viele Muster und Rituale. Eine Liebe ohne den wiederholten Satz »Ich liebe dich!« wäre schon recht seltsam, ebenso eine Liebe ohne Aufmerksamkeiten, kleine und große Besitzansprüche, ohne Zuwendungen und ohne Rituale. Je besonderer wir unsere Liebe finden, umso mehr gleichen wir damit allen anderen. Nur jene Liebenden, die sagen, ihre Liebe sei wie alle anderen, sind wohl tatsächlich anders.
Liebende verherrlichen ein verherrlichendes Gefühl. Vermutlich ist es deshalb auch nicht aus der Luft gegriffen, wenn John Money annimmt, das Bild, das wir uns vom anderen machen, sei eine Projektion nach dem Schema der Liebeskarte. Nur eben, dass das Schema bei weitem nicht so schematisch ist, wie Money vermutet. Gewiss aber verliebt man sich immer in eine Vorstellung. »Der Liebende liebt den Geliebten, wie er ihn sieht« – diesem
klugen Satz des Sozialphilosophen Max Horkheimer ist nichts hinzuzufügen. 73 Das Bild, das man sich vom anderen macht, wird durch die Liebe so weit verändert und bestimmt, dass der geliebte Mensch einer »normalen« Betrachtungsweise entrückt. Das ist ihre ganz eigene unverwechselbare Qualität. In den Worten des Soziologen Niklas Luhmann: »Der Außenhalt wird abgebaut, die inneren Spannungen verschärft (im Sinne von: intensiviert). Die Stabilität muss jetzt aus den persönlichen Ressourcen gewährleistet werden.« 74
In der Ritualisierung unseres Verhaltens suchen wir jene Wärme zu erzeugen, die wir als Kinder im Elternhaus hatten (oder vermisst haben). Kindliche Welten sind von magischen und ritualisierten Wahrnehmungen und Erfahrungen geprägt. Was Erwachsenen logisch und verständlich erscheint, wird von Kindern symbolisch als richtig oder falsch gewertet. Sie folgen Pfaden, von denen sie annehmen müssen, dass sie gut sind, ohne sie zu durchschauen. Und sie verleihen selbst jenen Dingen eine Aura und einen Wert, von denen sie wissen, dass er ihnen »objektiv« nicht zukommt. Der Knuffelhase und der Stoffhund bleiben beseelte Liebesobjekte, obwohl bereits jedes 4-jährige Kind weiß, dass sie definitiv weder leben noch empfinden.
Eine Qualität unserer Liebesbeziehungen ist, dass sie es uns auch als Erwachsenen ermöglicht, Dingen einen Wert zu verleihen, ohne dass unser kritischer Verstand diese Magie zerstört. Der liebgewonnene Kaffee morgens auf dem Balkon in trauter Zweisamkeit genossen, erhält eine Bedeutsamkeit, den er ohne den anderen niemals hätte. Werte gehören zu den kostbarsten Besitztümern des Menschen. Sie spontan und freiwillig aufzubauen ist ebenso unmöglich, wie sie durch Nachdenken oder gar Abgucken erlangen zu wollen. Um einen Wert auszubilden, muss ich meine Vorstellungen positiv emotionalisieren. Doch aus einer Emotion eine Vorstellung zu machen ist weit leichter als aus einer Vorstellung eine Emotion. Wenn uns ein Freund erzählt, dass er beim Reiten oder beim Tauchen glücklich ist,
macht uns das auch bei viel gutem Willen nicht zu glücklichen Reitern oder Tauchern.
Fast alle unsere Werte prägen sich in der Kindheit aus, und wer als Kind keine Werte aufbauen kann, wird sie wahrscheinlich ein Leben lang nicht finden – jedenfalls nicht langfristig. Die positive Beseelung von Dingen, Interessen und Verhaltensweisen ist nur in frühen Prägungen möglich oder – zumindest kurzfristig – durch die Liebe. Ich erinnere mich gut, wie ich im Alter von etwa 12 Jahren betrauerte, dass ich mich leider nicht mehr so auf
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